Gedenkfeier Pogromnacht

9. November 2009

Im Psalm 74 breitet der Beter in Erinnerung an die Zerstörung des Tempels durch die Babylonier vor Gott seinen Kummer aus. Er klagt:
„Der Feind hat im Heiligtum alles verwüstet...
Wie einer die Axt schwingt im Dickicht des Waldes, so zerschlugen sie all das Schnitzwerk mit Beil und Hammer...
Und sie verbrannten alle Gottesstätten ringsum im Land.“
Dietrich Bonhoeffer unterstreicht in seiner Bibel diese Worte und schreibt daneben an den Rand: „9. November 38“.

Bonhoeffer setzt den gezielt geplanten Blitz-Anschlag vom 9. November 38 auf die jüdischen Synagogen in Parallele zur Zerstörung des Tempels und der jüdischen Heiligtümer im Jahr 589 v. Chr. und weist auf die Wiederholung in der Menschheitsgeschichte hin.
Gibt es etwas Verächtlicheres als das zu zerstören und zu zerschlagen, was andern heilig ist? Wenn diese Ebene einmal überschritten ist, gibt es keine Grenze mehr. Das will uns doch die Geschichte lehren.
Daran wollen wir uns heute erinnern und uns diesen Satz bewusst machen, den ich vor der evangelischen Kirche in Ilmenau las: „Wer sich seiner Geschichte nicht erinnert, ist verdammt, sie zu wiederholen.“

Der 9. November zeigt, wozu Menschen fähig sind, auf welche Abwege menschliche Vernunft geraten kann.
Das Datum des 9. November zeigt aber auch, zu welcher Veränderungsbereitschaft und Solidarität Menschen fähig sind.
Der 9. November 1918 ist auch der Tag der Ausrufung der Weimarer Republik.
Der 9. November 1989 der Tag des Mauerfalls, der Tag des wiedervereinten Deutschlands.
„Wir waren auf alles vorbereitet. Nur nicht auf Kerzen und Gebete.“ Das ist der Kommentar eines Stasi-Generals im Fernsehfilm „Nikolaikirche“ zum Ende des DDR Regimes. Das Eingeständnis, dass Ideologien doch friedlich zu unterwandern und Machtapparate doch zu überrumpeln sind – mit Kerzen und Gebeten.
Kerzen waren über Wochen hinweg im Herbst 1989 ein Zeichen der Hoffnung, ein Zeichen des Protestes gegen Mauern und Zäune, gegen Unterdrückung und Unfreiheit. Gebete waren damals ein Ausdruck des Glaubens, dass dieser Gott die Kraft zur Veränderung schenken kann. Alle, die sich damals zu Hunderten, ja Tausenden zu Gebeten in vielen Städten der DDR trafen, haben ein Wort von Albert Schweitzer bestätigt: „Gebete ändern Menschen; und Menschen verändern die Welt.“

Ich finde es wunderschön, dass heute am Brandenburger Tor ausgelassen gefeiert wird. Ich frage mich allerdings: Wo ist die Erinnerung an diese Kraft der Veränderung geblieben, an die vor 20 Jahren Tausende von Menschen glaubten?
Ich war am vergangenen Mittwoch in Weimar. Die neuen wuchtigen Glocken der bekannten evangelischen Herder-Kirche luden zum monatlichen Friedensgebet ein. Vor 20 Jahren war dieses Gebet auch in Weimar ein Renner – die Kirche überfüllt. Am vergangenen Mittwoch waren es 3 alte Frauen und ein Mann. Ich fragte mich: Wo ist die Erinnerung an die damals verändernde Kraft des Gebetes geblieben. Wie können Menschen in 20 Jahren so schnell vergessen?

Ich bin überzeugt, es stimmt: „Wer sich der schrecklichen Geschichte des 9. November 1938 nicht erinnert, ist verdammt, sie zu wiederholen.“
Ich bin aber auch überzeugt: „Wer sich dankbar der verändernden Kraft des Gebetes um die Ereignisse des 9. Novembers 1989 erinnert und sie zu verinnerlichen und zu leben versucht, der gibt kommenden Generationen die Überzeugung weiter, die so schnell vergessen wird:
„Gebete ändern Menschen; und Menschen verändern die Welt.“


Pfarrer Stefan Mai

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