So eine Unvernunft - oder das einzig Richtige?

Predigt zum 32. Sonntag im Jahreskreis (Mk 12, 41-44)

Ich bewundere Jesus wegen seiner Beobachtungsgabe. Ich bewundere ihn, was ihm am ganz einfachen, banalen Leben der kleinen Leute auffällt und was ihm dann dazu einfällt. Er beobachtet, was draußen in der Natur und um ihn herum geschieht und zieht daraus unerwartete Schlüsse für das Leben und den Glauben.
Er beobachtet das Unkraut und den Weizen, und macht daraus eine Warnung, Menschen in gut und böse einzuteilen.
Er erzählt vom kleinen Senfkorn und liest daraus ab: aus dem kleinen, worüber gern gelacht wird, kann unverhofft etwas ganz Großes werden.
Er schaut auf die Vögel des Himmels und die Blumen des Feldes und ermuntert Menschen, in einer ähnlich sorglosen Haltung das Leben anzupacken.
Jesus schaut dem säenden Bauern zu, der seinen Samen auf schlechtes und gutes Erdreich ausstreut und meint: Vieles, was du im Leben tust, ist vergeblich, aber merke dir: Das, was Frucht bringt, reicht!
Und er hat ein gutes Auge für die Verhaltensweisen von Menschen und kann sogar von betrügerischen Verwaltern und skrupellosen Richtern eine Lehre fürs Leben ziehen. Sie lautet: Niemand ist so schlecht, dass du nichts von ihm lernen könntest.

Im heutigen Evangelium sitzt er im Tempel gegenüber dem Opferkasten und beobachtet wieder genau. Der Opferkasten des Tempels, das waren sieben trompetenartige Trichter, in die man für den Tempelschatz Geld hineinwerfen konnte. Schon am Klang konnte man beim Geldeinwurf hören, ob es sich um eine gewichtige Spende oder ein paar Pfennige handelte. Jesus sieht, wie viele Reiche kommen und viel hineinwerfen. Er pflegt nicht das Vorurteil, dass die Reichen Geizkrägen sind. Nein, er sieht und erkennt an: Die werfen viel hinein. Und er beobachtet eine arme Witwe, die wirft ein paar Pfennige hinein.
Und da holt er seine Jünger zu sich und sagt den markanten Satz: „Amen ich sage euch: Diese arme Witwe hat mehr in den Opferkasten hineingeworfen als alle anderen. Denn sie haben nur etwas von ihrem Überfluss gegeben; diese Frau aber, die kaum das Nötigste zum Leben hat, sie hat alles gegeben, was sie besaß, ihren ganzen Lebensunterhalt.“

Jesus beobachtet vordergründig zweierlei Spendeverhalten. Aber hintergründig entdeckt er daran zwei verschiedene Lebenshaltungen. Die Lebenshaltung der Reichen ist: Etwas von dem, was ich habe, hergeben. Aber so wohl dosiert, dass es nicht weh tut.
Die arme Witwe dagegen gibt, ohne zu rechnen, ohne groß nachzudenken, welche Folgen das für sie haben könnte. Eigentlich unklug, aber sie tut es mit Herzblut.
Die Lebenshaltung, die er an den Reichen abschaut klassifiziert er als respektablen Schongang. Seine voller Sympathie gehört der Lebenshaltung der Witwe: dem vollen Einsatz.
In dieser Erzählung von der armen Witwe gibt Jesus seinen Jüngern ein kleines Lebensbeispiel mit tiefem Hintersinn. Der österreichische Dichter Erich Fried erzählt auch einmal von einem ganz banalen Beispiel aus dem heutigen Leben, von einer Batterie. Das Gedicht heißt: „Kleines Beispiel“ :

Auch ungelebtes Leben
geht zu Ende
zwar vielleicht langsamer
wie eine Batterie
in einer Taschenlampe
die keiner benutzt

Aber das hilft nicht viel:
Wenn man
(sagen wir einmal)
diese Taschenlampe
nach so- und sovielen Jahren anknipsen will
kommt kein Atemzug Licht mehr heraus
und wenn du sie aufmachst
findest du nur deine Knochen
und falls du Pech hast
auch diese
schon ganz zerfressen

Da hättest du
genauso gut
leuchten können


Ist dieses kleine Beispiel aus dem Leben, wie Erich Fried sein Gedicht nennt, nicht eine geniale Übersetzung von dem, was Jesus im heutigen Evangelium propagiert?


Pfarrer Stefan Mai

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