Das Schwirren des Pfeiles

Predigt zum Totengedenken auf dem Friedhof (Lesung: Jes 38,1-8)

„Unsere Tage zu zählen lehre uns, dann gewinnen wir ein weises Herz!“ So rät Psalm 90. In der Regel zählen wir nicht unsere Tage. Wir wundern uns höchstens, wie schnell sie vergehen. „Was, die Woche ist schon wieder rum?“ sagen wir. Und tun dann doch wieder so, als ob uns genügend von ihnen zur Verfügung stehen. Manchmal denken wir auch: „Ach wenn doch dies und jenes schon vorüber wäre“. Oder wir sehnen ein bestimmtes Ereignis herbei, ohne uns bewusst zu machen, dass der Vorrat an Tagen, den wir zur Verfügung haben, wieder kleiner geworden ist.

Doch manchmal blitzt es in uns auf, so wie es König Hiskija bewusst geworden ist: Deine Tage sind gezählt, deine Lebenszeit kann nicht beliebig verlängert werden. Am liebsten machen wir dann die Augen zu. Es überfällt uns Ohnmacht und Traurigkeit.
Der Dichter Jean Paul hat für diese Erfahrung ein einprägsames Bild gefunden: „Auf jeden Menschen wird in der Stunde der Geburt ein Pfeil abgeschossen, und dieser Pfeil trifft ihn in der Stunde des Todes. Aber manchmal, mitten im Leben, hören wir das Schwirren des Pfeiles.“

Das kennen wir alle: Beim Kaffee am Morgen ein Blick in die Todesanzeigen. Da schaut mich das Gesicht eines Arbeitskollegen an. „Mensch, der war doch noch ein paar Jahre jünger als ich.“ Das fährt in die Knochen.
Ich telefoniere und höre, dass ein naher Verwandter plötzlich schwer krank geworden ist. Und dabei hab ich ihn noch vor ein paar Tagen wegen seiner Gesundheit beneidet.
Oder ich sitze da, und plötzlich sticht mir das Herz, der Schmerz durchzuckt mich und zeigt mir, wie das Leben mit einem Schlag aus sein könnte.
Ja, manchmal hören wir mitten im Leben das Schwirren des Pfeiles, aber verdrängen dies wieder schnell. So wie der Jüngling im Märchen der Gebrüder Grimm, dem der Tod versprach, dass er ihn nicht plötzlich mitnehmen werde, sondern ihm erst seine Boten sendet. Der Mann lebte in den Tag hinein. Es kamen Krankheiten und Schmerzen. Aber, so dachte der Mann, sterben werde ich nicht, denn der Tod sendet mir zuerst seine Boten. Da klopfte ihm eines Tages jemand auf die Schulter. Er blickte sich um - und der Tod stand hinter ihm und sprach: „Folge mir, die Stunde deines Abschieds von dieser Welt ist gekommen!“ „Wie?“, antwortete der Mann, „willst du dein Wort brechen? Hast du mir nicht versprochen, dass du mir, bevor du kämest, erst deine Boten senden wollest? Ich habe keinen gesehen.“ „Schweig!“, erwiderte der Tod, „habe ich dir nicht einen Boten über den anderen geschickt? Kam nicht Fieber, rüttelte dich und warf dich nieder? Hat der Schwindel dir nicht den Kopf betäubt? Zwickte dich nicht die Gicht in allen Gliedern?“ Da wusste der Mann nichts mehr zu erwidern und ging mit dem Tode fort.

Wer das Schwirren des Pfeiles manchmal hört und bewusst wahrnimmt, der kann lernen, seine Tage zu zählen: Der wird sie als Geschenk begreifen. Der wird versuchen, die Tage bewusst zu gestalten, Wichtiges vom Unwichtigen unterscheiden. Wer das Schwirren des Pfeiles wahrnimmt, der wird auch versuchen, dankbar zu leben. Keiner von uns hat einen Anspruch auf Leben, Gesundheit und Glück. Das sollten wir uns manchmal vor Augen halten. Heute hat sich eher die Haltung breit gemacht: Ein Mensch hat Anspruch auf alles. Wer nicht aus dem Vollen schöpfen kann, wer einmal Zeiten der Dürre, Probleme und Schwierigkeiten durchzukämpfen hat, der fühlt sich vom Leben und Gott betrogen. Wir sind geneigt, auf Glücksabonnements gepolt zu sein. Welche Gefahr, alles als selbstverständlich zu nehmen, anstatt sich bewusst zu machen: Das Größte im Leben ist immer Geschenk.
Wer gelernt hat, seine Tage zu zählen, der wird auch eher verstehen, was im Leben wirklich zählt. Der wird lernen, dass die einzige Währung, die Dauer hat, nicht das Geld auf dem Konto ist, sondern die Güte, die er investiert hat, die Eindrücke, die er im Herzen von Menschen hinterlassen hat, die Aufmerksamkeit, mit der er am Leben anderer teilgenommen hat. Wer seine Tage zu zählen gelernt hat, wird versuchen gütiger zu leben.

Liebe Leser,
am Grabe unserer Verstorbenen, auf deren Grabsteinen wir ablesen können, wie viele Tage ihr Leben gezählt hat, hören wir das Schwirren des Todespfeiles deutlicher als sonst. Und so können wir an den Gräbern vielleicht einmal ganz bewusst wieder einmal beten: „Unsere Tage zu zählen lehre uns. Dann gewinnen wir ein weises Herz.“

(Die Anregung zu dieser Predigt verdanke ich W. Raible, 100 Kurzansprachen, S. 109)


Pfarrer Stefan Mai

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