Mehr Leben ins Leben...

Predigt zum 28. Sonntag im Jahreskreis (Mk 10,17-27)

Ist denn dieser Jesus mit gar nichts zufrieden? Da kommt ein Mann mit Anstand und tiefer Verehrung auf Jesus zu und fragt ihn mit großer Erwartungshaltung: „Was soll ich denn machen? Kannst du mir nicht sagen, was ich tun soll, damit in mein Leben einfach mehr Leben reinkommt?“ Das ist keine Fangfrage, wie sie gern die Pharisäer Jesus gestellt hatten, um ihn auf den Leim zu führen. Hinter dieser Frage steckt einfach die Sehnsucht nach einem erfüllten Leben.
Aber Jesus packt diesen Mann, der auf ihn mit so viel gutem Willen und Vertrauen zukommt, hart an. Lehnt brüsk die vertrauensvolle Anrede „guter Meister“ ab und verweist ihn auf die Gebote. Doch wie ein braver Musterschüler kann der junge Mann wiederum nur darauf hinweisen, dass er brav und willig alles im Leben tut, was ihm vorgeschrieben wurde.

Warum ist Jesus mit dieser Antwort wieder nicht zufrieden? So manche Mutter würde sich die Finger danach abschlecken, wenn ihre Tochter mit einem solchen Mann als zukünftigem Schwiegersohn nach Hause käme. Dieser Jesus dagegen setzt noch eins drauf: „Eines fehlt dir noch: Geh, verkaufe, was du hast, gib das Geld den Armen und du wirst einen Platz im Himmel haben!“ Warum ist dieser sympathische Mann wieder nicht gut genug? Wir müssen genauer hinschauen!

Jesus gibt dem Mann die Antwort auf die Frage nach einem sinnvollen Leben nicht als notorischer Nörgler, dem nichts gut genug ist. Im Evangelium heißt es ausdrücklich. Er schaut ihn mitfühlend an und gab ihm diese Antwort, „weil er ihn liebte“. Weil er ihn liebte, mutet er dem Mann diese Antwort zu. „Eines fehlt dir noch!“, meint er. Etwas ganz Entscheidendes! Jesus spürt: Da sucht ein Mann, der brav und verantwortungsvoll sein Leben gestaltet, nach „Mehr“. Er spürt deutlich: Trotz des Bravseins und seines gutwilligen Wesens liegt eine Art Grauschleier über dem Leben des Mannes. Es fehlt die Begeisterung. Es fehlt die Ergriffenheit. Es fehlt die Freude am Leben. Und da will ihn Jesus in eine Richtung locken, die für ihn bisher absolut fremd und neu ist. In eine Richtung, die mehr Leben ins Leben bringen könnte.
Aber gerade an diesem entscheidenden Punkt schreckt der Mann zurück. Er sucht nach „mehr“ im Leben, aber dieses Angebot, das ihm Jesus macht, das ihn über eine Lebensgestaltung „Leben nach Gebot“ weiterführen will, lässt ihn wieder zurückschrecken.

Liebe Leser, spüren Sie, welche ungeheuere Lebensweisheit hinter diesem Evangelium steckt? Wir merken doch selbst, was in unser Leben „mehr Leben“ bringen könnte. Wir ahnen es. Wir wissen genau, dass immer nur das zu tun, was ich tun muss, kein pulsierendes Leben schafft, keine Lust am Leben fördert. Aber dann schrecken wir gerade davor wieder zurück – und lassen lieber alles beim Alten. Wir schlagen uns wieder auf die vermeintlich sichere Seite. Und da legt Jesus den Finger drauf und meint: Was ist denn der Punkt, der in dir rumort und dich zu etwas verführen möchte, für das es sich zu leben lohnt? Was würdest du in deinem Leben sofort tun, um zu „mehr Leben“ zu kommen, wenn du keine Angst hättest?

Vom Spanier Jose Cela stammt das Wort: „Sich einzusetzen für etwas, was uns wichtig erscheint, beschert uns die befriedigendsten Momente unseres Daseins“. Wie wahr: Das würde einen unglaublichen Schub geben. Energie wecken und Kraft schenken, die ich in mir vielleicht gar nicht vermute.


Pfarrer Stefan Mai

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