Beten mit Fingerspitzengefühl

Predigt zum Rosenkranzfest in Gerolzhofen

Welch ein Wunderwerk der Natur sind doch unsere Fingerspitzen. Wie feinfühlig, wie empfindsam, wie sensibel. Was können wir alles mit unseren Fingerspitzen erahnen, erkennen. Wie wohl tut es Menschen, wenn sie zärtlich mit den Fingerspitzen gekrault, zärtlich berührt und gestreichelt werden. Und wie schwer ist es für Menschen, wenn sie plötzlich nach einem Schlaganfall kein Feingefühl mehr in den Fingerspitzen haben, vieles nicht mehr greifen können oder ihnen so manches aus der Hand fällt. Erst neulich meinte ein Mann: „Seit der Chemo habe ich kein Gespür mehr in den Fingerspitzen.“

„Der Mann oder die Frau hat Fingerspitzengefühl“ sagen wir manchmal und meinen damit: Dieser Mensch hat ein Händchen, wie man mit schwierigen Fragen oder mit Menschen umgeht. Fingerspitzengefühl, das heißt: Da ist eine Lehrerin aufmerksam und sensibel für die Fragen ihrer Kinder, paukt nicht nur den Stoff durch, sondern spürt, warum dieses Kind solche Konzentrationsstörungen hat und wie sie aus einem anderen verborgene Fähigkeiten herauslocken und entwickeln helfen kann. Da spürt ein Mann, was seine Frau traurig macht und wie er in solchen Situationen mit ihr umgehen kann, ohne noch selbst in das Loch der Traurigkeit hinein zu rutschen. Oder da hat der Firmenchef ein Gespür, wie er unter seinen Angestellten ein positives Arbeitsklima und einen Teamgeist entwickelt, der einfach beflügelt. Und da ist die Altenpflegerin, die es versteht mit dem schwierigen alten Herrn liebevoll und zugleich konsequent umzugehen.

Wenn ich den Rosenkranz in die Hand nehme und mit ihm bete, dann gleiten meine Finger von Perle zu Perle. Feinfühlig nehmen die Fingerspitzen die kleine Perle in die Hand, verweilen eine Zeit lang darauf und tasten sich zur nächsten vor, und dies 59 Mal während des Betens eines Rosenkranzes. Der Rosenkranz ist somit ein „Gebet mit Fingerspitzengefühl“.
Wer den Rosenkranz betet, kann sich im wahrsten Sinn des Wortes an den Glauben herantasten. Mit den Perlen, die durch unsere Finger gleiten, begeben wir uns auf eine Entdeckungsreise, um in die Perlen unseres Glaubens, in die großen Kernsätze unseres Christseins hineinzuhören. Die Wiederholung hilft, sich an der Hand Marias in das Leben und Sterben Jesu hineinzufühlen.
Wer unverkrampft den Rosenkranz beten kann und in Gelassenheit die Perlen abtastet, der spürt: Der immer gleiche Rhythmus und die Einfachheit des Gebetes lassen zur Ruhe kommen.
Kardinal Faulhaber hat einmal erzählt: „Ich gestehe, wenn mir bei dem Vielerlei meiner täglichen Arbeiten der Kopf müde und schwer wird, und wenn ich am Abend den Rosenkranz bete, dann ist es mir wie ein Ausruhen des Geistes nach all der Hitze des Tages.“

Wer den Rosenkranz beten kann, der kann ein Feingefühl für das entwickeln, was in ihm vorgeht. Die ruhig dahinfließenden Worte lassen uns genügend Zeit, dem nachzugehen, was uns gerade bewegt und es ins Gebet zu nehmen.
Während ich - im Bild gesprochen - die Melodie des Rosenkranzes auf den Text von verschiedenen Lebenssituationen Mariens mit ihrem Sohn singe, kommt der Resonanzboden des Lebens ins Schwingen.
Im freudenreichen Rosenkranz kann ich darüber nachdenken, was mir Freude macht, worüber ich glücklich bin. Und werde so feinfühliger dafür, dass das Leben ein Geschenk ist.
Wer die Fingerspitzen über die schmerzensreichen Perlen gleiten lässt, der verflechtet mit den Leidenssituationen Jesu die eigenen Sorgen und Belastungen und ringt im Gebet um eine richtige Lösung. Und wie gut kann man dabei an andere denken, die schweres Leid tragen müssen. Und vielleicht wird man so hellhöriger und sensibler für die Not der anderen.
Und während die Fingerspitzen über die glorreichen Perlen gleiten und ich von den großen Hoffnungen des Glaubens höre, erhalte ich genügend Stoff, darüber nachzudenken, welche Hoffnungen und Wünsche ich in mir trage und was eine Krönung meines Lebens wäre.

Liebe Leser,
unsere Kirche und unsere Pfarrgemeinde tragen den Namen „Maria vom Rosenkranz“. Jedes Jahr feiern wir in Gerolzhofen das Rosenkranzfest. Vielleicht ist gerade dies immer wieder ein Anstoß, es im Monat Oktober wieder einmal mit diesem „Gebet mit Fingerspitzengefühl“ zu versuchen. Wilhelm Willms wünscht uns für diesen Versuch:
„mit den fingerspitzen / werden wir / diese perlen / wie eine blindenschrift / abtasten / mögen uns / dabei / die augen / aufgehen“.

Die Anregung zu dieser Predigt verdanke ich Wolfgang Raible, Anzeiger für die Seelsorge, Heft 10, Oktober 2009, S.28


Pfarrer Stefan Mai

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