In meinem Herzen kämpfen zwei Wölfe

Predigt zum Erntedankfest 2009 (Jak 5,1-6)

Schweigend saß der alte Indianer mit seinem Enkel am Lagerfeuer. Die Bäume standen wie dunkle Schatten, das Feuer knackte und die Flammen züngelten in den Himmel.
Nach einer langen Weile sagte der Alte: „Manchmal fühle ich mich, als ob zwei Wölfe in meinem Herzen miteinander kämpfen. Einer der beiden ist rachsüchtig, aggressiv und grausam. Der andere ist liebevoll, sanft und mitfühlend.“
„Welcher der beiden wird den Kampf um dein Herz gewinnen?“, fragte der Junge.
„Der, den ich füttere“, antwortete der Alte.

Was soll diese Indianergeschichte an einem Erntedankfest?
Mir gibt sie Stoff zum Nachdenken. Denn ich glaube: In einem jeden Menschenherz kämpfen zwei Haltungen miteinander - die Gier und die Dankbarkeit. Die Haltung: immer mehr - und das Gefühl: ich bin über die Maßen beschenkt.
Welcher der beiden Haltungen wird gewinnen? Ich kann mit dem alten Indianer nur antworten: „Die, die ich füttere.“
Wenn ich jeden Tag die vielen Reklameprospekte. die ins Haus flattern, genau studiere und mir dauernd vorsage, das hast du noch nicht, das könntest du noch gebrauchen. Wenn bei jeder neu herauskommenden Computerserie ich meinen gerade einmal ein Jahr alten Rechner nicht mehr sehen kann, wenn ich nicht ohne Neid zuhören kann, wo der oder jene im Urlaub waren. Dann bin ich schon dabei, den Wolf „Gier“ zu füttern. Oder gar schon auf dem Weg zu einer gierigen Wolfsexistenz, vor der heute der Jakobusbrief mit drastischen Worten warnt: „Euer Reichtum verfault und eure Kleider werden von Motten zerfressen. Noch in den letzten Tagen sammelt ihr Schätze. Aber der Lohn der Arbeiter, die eure Felder gemäht haben, der Lohn, den ihr ihnen vorenthalten habt, schreit zum Himmel.“

Gier frisst Hirn. Und Gier, wenn sie mich einmal hat, hält mich fest in den Klauen. Sonst könnte ich mir es nicht erklären, wie wenig wir in Deutschland aus der Wirtschaftskrise gelernt haben. Weiterhin gönnen sich Bosse großer Investmentgesellschaften gigantische Boni. Aber nicht nur die Großen sind bei der neuen Party dabei, die Aktienkurse steigen, die Rennerei geht wieder los oder besser gesagt: hat noch nie nachgelassen, wenn mit fetten Prozenten Preisnachlässe vorgegaukelt werden.

Die Haltung der Dankbarkeit ist das einzige Gegengift gegen den Wolf-Gier. Aber diese Haltung der Dankbarkeit will gefüttert sein, wenn sie den „Wolf“ Gier besiegen will. Sie setzt ein feines Gespür voraus. Sie erfordert ein hohes Maß an Bewusstsein dafür, dass das Leben in seiner ganzen Fülle nicht das Verdienst von uns Menschen ist. Das Leben ist alles andere als machbar und selbstverständlich. Die Dankbarkeit setzt das Wissen voraus, dass man sich die wichtigsten Dinge im Leben nicht verdient hat: Dass ich gesund bin, dass Menschen mich mögen, dass ich Kinder habe, dass ich mich freuen kann, dass ich glauben kann, dass ich im Alter auf ein erfülltes Leben zurückblicken darf.

Liebe Leser, wir feiern heute das Fest Erntedank. Echt Erntedank feiern ist mehr als dass sich ein paar fromme Gemüter um ein paar Knollen und Ähren versammeln. Erntedank ist mehr als nur ein schönes Bild aus bunten Früchten vor den Altären oder schmucke Erntedankwägen bestaunen.
Erntedank ist mehr als nur schöne Folklore, mehr als nur ein Sonntag im Oktober.
Erntedank möchte uns anregen, einmal gemeinsam inne zu halten und für die Fülle des Lebens zu danken. Dieses Fest möchte in uns die Haltung der Dankbarkeit kultivieren, damit wir den Kampf gegen den „Wolf“ Gier nicht verlieren.


Pfarrer Stefan Mai

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