Sind die Weggegangenen wirklich weg?

Predigt zum 21. Sonntag im Jahreskreis (Joh 6,60-66)

Wollt auch ihr weggehen? Fast resignativ hören wir Jesus diese Frage an die Zwölf stellen, nachdem ihm viele Jünger scharenweise davongelaufen sind. Was er sagt, passt vielen nicht, erfüllt nicht ihre Erwartungen: „Seine Worte sind unerträglich!“ heißt es. „Wollt auch ihr weggehen?“ Oft lesen oder hören wir diese Worte Jesu in dem Sinn: Hoffentlich bleibt ihr doch wenigstens noch da, hoffentlich lauft ihr nicht auch noch davon.

Bischof Joachim Wanke von Erfurt erzählte auf einem Exerzitienkurs von einem Gespräch mit einem Pfarrer. Der fragte ihn: „Weißt du Bischof, was mir als Pfarrer am meisten zu schaffen macht und auch kaputt macht? Ich bin jetzt 15 Jahre in dieser Gemeinde, mühe mich jede Woche ab mit meiner Predigt, versuche die Worte der Bibel mit dem Leben zu verbinden, versuche einen stilvollen Gottesdienst zu feiern, aber was ist der Erfolg? Die Gottesdienstbesucherzahl hat sich in dieser Zeit halbiert. Ich habe also mit fortlaufendem Erfolg hier gepredigt!“ Und er legte dabei die Betonung auf fortlaufend. Der Schmerz über die, die nicht mehr kommen und weggehen, saß tief.

Eine Gottesdienstgemeinde von Gerolzhofen hat es auch in den letzten 20 Jahren erlebt, vor allem in der Sparte U 50, unter 50. Viele haben ihr den Rücken gekehrt. „Was die Kirche sagt ist unerträglich“, war dies der Grund oder haben sie die Gemeinde und ihre Gottesdienste stillschweigend verlassen, weil ihnen diese zu langweilig, zu wenig attraktiv, zu floskelhaft oder nicht mehr konkurrenzfähig zum Stil und Geschmack unserer Zeit sind?

Aber kann man die Sache nicht auch ganz anders sehen?
Der Dienstagnachmittag und Abend hat mich wieder einmal nachdenklich gemacht. Ich war zu Besuch auf dem Zeltlager der KJG Gerolzhofen in Neubrunn. Die meisten der 165 Kinder und Jugendlichen sieht man nicht mehr in unserer Kirche. Am Tag zuvor hatten die verschiedenen Gruppen die Aufgabe, eine Skulptur oder eine Kunstinstallation zu kreieren. Ich war neugierig und schaute mir die verschiedenen Kunstobjekte in einer ruhigen Stunde an - und war beeindruckt oder noch besser: Tief gerührt. Denn fast alle dieser Kunstwerke waren religiöse Werke - wahrscheinlich ohne dass es die Kinder und Jugendlichen merkten.

Da gab es das magische Zelt: Ein mannshohes Lattengerüst, schön mit Zeltplanen überspannt. Auf der Vorderseite in Gesichtshöhe ein Guckloch ausgeschnitten. Um das Guckloch herum ein zerbrochener Spiegel angebracht. Wer in das magische Zelt hineinschauen wollte, sah zuerst sein Gesicht auf den Spiegelsplittern in verschiedenen Facetten. Erst wenn man den Kopf in das dunkle Innere des Zeltes steckte, dann sah man am Boden und von der Decke gehängt verschiedenfarbige Lichter. Wollten die Jugendlichen damit ausdrücken: Wir wissen oft selbst nicht, welches wirkliche Gesicht wir haben. Aber wer auf der Suche nach seinem wahren Gesicht, nach dem eigentlichen Kern seiner Persönlichkeit ist, der muss den Mut haben, in der Stille, vielleicht besonders in der Nacht in sich hineinzuschauen und zu horchen. Erst dann entdeckt er die wahren Farben seiner Persönlichkeit?
Eine andere Gruppe versetzte den Besucher am Waldrand in die Zeit des Inka-Reiches. Da stand eine große Biene Maya-Statue aus Schachteln und Papier. Daneben war zu lesen: Wer zu mir aufschaut, dem wird ein Wespenstich nichts anhaben! Ich glaube nicht, dass die Künstler die alte Geschichte der Bibel kannten, in der davon erzählt wird, wie Mose eine kupferne Schlange bei einer furchtbaren Schlangenplage an einer Signalstange aufhängt und ausrufen lässt: Wer zu dieser Schlange emporschaut, dem wird das Gift der Nattern nicht schaden.
Im „house of music“ hängte am Stützpfosten eines großen Zeltes eine Gitarre und ringsum Texte moderner Songs. Es waren Texte der Sehnsucht nach Geborgenheit nach Verlässlichkeit.
In einem anderen Zelt eine große Hand. Die Finger der Hand waren nach oben aufgerichtet. Ein Baumstumpf lud ein, sich in diese Hand hinein zu setzen und das Gefühl zu haben: Ich darf mich in dieser großen Hand geborgen fühlen.
An einer anderen Stelle eine Naturinstallation: abgebrochene Äste, die auf das Abholzen des Urwalds anspielten. Und auf einem Plakat die Geschichte vom Käfer Bruno, dem der gesamte Lebensraum Wald genommen wurde und dann das Wort des Käfers am Schluss: „Aber mich habt ihr nicht gefragt!“
Wieder eine andere Gruppe hatte sich als Ort einen Baum ausgesucht. Unter ihm war auf der Wiese ein Labyrinth herausgegraben . Verschiedene Naturmaterialien wurden hineingelegt: Steine, Moos, Holzsplitter, Dornen, Gras. Kleine Lichter dazu gestellt Aus dem ausgehobenen Erde einen Relaxstuhl unter dem Baum gebaut, fein mit Holzlatten belegt. Wenn man sich hineinlegte konnte man zwischen den magischen Lichtern im Baum zum Himmel empor schauen. „Das Auge zum Himmel“ war der Titel dieser Installation. Sie lud ein, mitten im Labyrinth des Lebens mit schönen, weichen und bequemen Wegstrecken, aber auch mit den steinigen und dornigen Wegen sich Zeit zu nehmen, zum Himmel zu schauen.

Liebe Leser! Den Großteil dieser Kinder und Jugendlichen sehen wir nicht mehr bei unseren Gottesdiensten in Gerolzhofen. Würden Sie aber wirklich sagen: Diese Jugendlichen haben Religion und Glaube hinter sich gelassen oder abgehakt? Oder sind sie mit ihren Skulpturen nicht ganz nah dran an Fragen des Glaubens und des Lebens. Ganz nah an religiösen Fragen und Sehnsüchten? Wenn auch in ganz anderen Formen, wie wir es gewohnt sind?

Ich danke den Jugendlichen für diese religiöse Lehrstunde auf dem Zeltlagerplatz in Neubrunn. Und in der Nacht fuhr ich nach dem Gottesdienst mit dem Gefühl nach Hause: Diese Jugendlichen sind zwar aus unserem Gottesdienst weggegangen, aber nicht von der Religion, nicht von der Suche nach Gott. Eines ist mir wieder dabei bewusst geworden: Kinder und Jugendliche werden sich erst wieder für die Weisheit unserer kirchlichen Rituale und Gottesdienstformen interessieren, wenn wir auch nach ihren Formen fragen und uns dafür interessieren.


Pfarrer Stefan Mai

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