Eine Stunde Zeit, um mein Taufkleid zu betrachten

Predigt zum 18. Sonntag im Jahreskreis (Eph 4, 17.20-24)

Ein bescheidener Hirte - so erzählt die Legende - nahm nachts einen verirrten Reiter bei sich auf. Es war der König, der sich aber zunächst nicht zu erkennen gab. Da ihn die Weisheit des einfachen Hirten beeindruckte, machte er ihn zu seinem Berater. Der Hirte war erfolgreich und gewöhnte sich schnell an das Leben am Hof, blieb aber immer der bescheidene und weise Berater. Einige Neider jedoch verleumdeten ihn beim König und sagten: „Er will selbst die Macht ergreifen. Jeden Tag verschwindet er in einer Kammer und bleibt dort eine Stunde. Was kann er da anderes tun als auf Umsturz zu sinnen?“ Der König war bestürzt und stellte den Hirten zur Rede. „Lass mich den Raum sehen, in dem du so viel Zeit verbringst“ - herrschte er ihn an. Zögernd öffnete der Hirte die Tür. Der Raum war leer. Nur an der Wand hing ein altes, verstaubtes Gewand. „Ich komme jeden Tag für eine Stunde hierher und betrachte dieses Gewand, um mir immer vor Augen zu führen, was ich einmal war und woher ich komme.“

Der Schreiber des Epheserbriefes wirft den jungen Christen vor: Ihr habt ein Gewand vergessen. Ihr habt es zwar einmal angezogen, aber es spielt in eurem Leben keine Rolle mehr, euer Taufkleid - oder besser gesagt das, was es bedeutet. Ihr habt doch von Christus gehört und seid unterrichtet worden in den Werten und Maßstäben, die Jesus vorgelebt hat. Euer Denken und Lebsstil entspricht aber nicht dem, was ihr von Christus gelernt habt. Ihr schwimmt einfach im Strom der Zeit mit und habt eure Linie verloren. Lasst euch doch nicht einfach blenden und vorgaukeln, was „in“ ist. Und lasst euch von der Gier nicht kaputt machen. Erinnert euch vielmehr an euer Taufkleid und „zieht den neuen Menschen an, der nach dem Bild Gottes geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit.“

„Ich komme jeden Tag für eine Stunde hierher und betrachte dieses Gewand, um mir immer vor Augen zu führen, was ich einmal war und woher ich komme,“ meinte der Hirte. Für ihn war das Hirtengewand ein Mahnzeichen, sich selbst treu zu bleiben.

Liebe Leser, könnte nicht jeder Sonntagsgottesdienst auch für uns ein solche Stunde sein? Die Ministranten tragen das weiße Rochett und führen uns dadurch ohne Worte im Bild vor Augen: Schaut auf euer Taufkleid und lasst euch an die Worte erinnern, die damals beim Anziehen des Taufkleides gesprochen wurden: „In der Taufe seid ihr eine neue Schöpfung geworden und habt - wie die Schrift sagt - Christus angezogen. Das weiße Gewand sei euch ein Zeichen für diese Würde. Bewahrt sie für das ewige Leben.“

Ich komme jeden Sonntag für eine Stunde hierher und betrachte dieses Gewand, um mir immer vor Augen zu führen, was ich einmal war und woher ich komme.
Ich komme jeden Sonntag eine Stunde hierher und möchte eine Eigenschaft dieses Jesus anziehen, von der ich im Evangelium höre: seine Geradlinigkeit - sein unverschämtes Gottvertrauen - sein mutiges Einstehen für seine Überzeugung - seinen Widerspruchsgeist, wenn Menschen ungerecht behandelt wurden - seine Sensibilität für das, was Menschen brauchen.

Glauben Sie nicht, wenn wir dies konsequent sonntags tun würden, dass dies unserem Leben unter der Woche ein christliches Profil und ein gesellschaftliches Gewicht geben würde?


Pfarrer Stefan Mai

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