„Stilles Chaos“ - ein Film zum Weltgebetstag für geistliche Berufe?

Predigt zum 4. Sonntag der Osterzeit ( Joh 10,11-18)

Zurzeit läuft in den guten Kinos der Film „Stilles Chaos“. Die Brüder Pietro und Carlo retten eines Tages am Strand zwei ertrinkenden jungen Frauen das Leben. Nicht nur, dass es dafür keinen Dank gibt. Als Pietro nach Hause kommt, findet er eine Tragödie vor: Seine Frau ist plötzlich verstorben. Nur seine zehnjährige Tochter war allein zu Hause und versuchte verzweifelt den Vater, der Manager bei einem großen Pay-TV Unternehmen ist, zu erreichen. Nach der Beerdigung versucht Pietro zunächst so weiterzumachen wie zuvor. Aber irgendwie machen die Dinge keinen Sinn mehr. Pietro spürt: Das Leben ist so schnell geworden, dass nicht einmal mehr Zeit bleibt, den Verlust eines geliebten Menschen zu betrauern. Er entschließt sich, herauszurücken aus der Geschwindigkeit und sich selbst zu finden.

Als die Schule wieder beginnt, bringt Pietro seine Tochter dorthin und beschließt, im Park davor den ganzen Tag auf sie zu warten. „Ich werde hier auf dich warten. Verstehst du, ich gehe nicht weg. Ich bleibe hier vor der Schule bis du wiederkommst.“ Und am nächsten Tag macht er dasselbe und den übernächsten ebenfalls. Und das wochenlang. Mit seinem Arbeitgeber vereinbart er, er könne genauso gut vom Park aus arbeiten. Pietro fährt den Tacho runter, sitzt auf der Parkbank, geht in ein Bistro, geht im Park vor der Schule seiner Tochter spazieren. Er beobachtet das kleine Leben um ihn herum, wird aufmerksam für die Menschen und Arbeitskollegen, Freunde aber auch Fremde kommen zu ihm. Sie erzählen über ihr Leben und den eigenen Schmerz. Und dadurch lernt Pietro das Leben durch andere Augen ganz anders kennen.

Berührende Szenen spielen sich ab:
Während Pietro im Park auf und ab geht und sich in Gedanken die Fluggesellschaften aufzählt, die er in den letzten Jahren benutzt hatte, drückt er zufällig auf die Fernbedienung für die Zentralverriegelung seines Autos. Das Blinken und das piepsende Geräusch erregt die Aufmerksamkeit eines vorbeigehenden behinderten Jungen. Dieser lacht und juchzt und winkt dem Auto zu, weil er glaubt, das Auto grüßt ihn. Jeden Tag läuft der Bub diesen Weg und freut sich immer neu auf das grüßende Auto. Und Pietro, egal mit wem er gerade sprach oder was er tat, versäumt es nicht, die Fernbedienung zu betätigen. Es wird zum Ritual, jeden Tag dem Buben diese Freude zu machen.

Pietro fällt im Park eine junge Frau auf. Jeden Tag kam sie mit ihrem Bernhardiner im Park vorbei. Auch ihr war Pietro aufgefallen. Sie wunderte sich über die so unterschiedlichen Menschen, die Pietro empfing, über die Ernsthaftigkeit der Gespräche und die Herzlichkeit und Dankbarkeit, mit der sich jeder verabschiedete. Und Pietro wartete jeden Tag auf diesen scheuen Blick der Frau, um ihn ebenso zart zu erwidern. Als eines Tages der Bernhardiner ausreißt und Pietro ihn wieder einfängt, gipfelt die Begegnungsszene zwischen der jungen Frau und Pietro in einem Satz. Die junge Frau meint zärtlich: „Mein Name ist.....“ sie stutzt und fährt weiter: Aber wir kennen uns ja schon lange!“
Manchmal besucht Pietro zum Essen ein Bistro. Eine Tages fragt er den Wirt des Parkcafes: „Was ist das?“ und meinte damit das Essen auf seinem Teller. „Broccoli“, gab der Bistrobesitzer zurück. „Aber was hast du darauf getan?“ „Peccorino,“ war die Antwort. „Aber das passt doch nicht, man schmeckt gar nicht, dass es Broccoli ist.“ „Dieses Essen bist nicht Du - bei dem alles seinen eigenen Geschmack haben darf,“ stellte Pietro fest und schaut den Wirt an. „Wie gut du mich kennst,“ bemerkte der Bistrobesitzer leise mit einem glücklichen Lächeln.
Und kurz vor Weihnachten fragt seine Tochter Claudia ihn: „Papa, erinnerst du dich noch an den ersten Tag, als du mich zur Schule gebracht hast und du sagtest, du würdest auf mich warten? Ich habe nicht geglaubt, dass du tatsächlich vor der Schule auf mich warten würdest. Etwas, das einfach so zuverlässig war, ist wunderbar und gibt Sicherheit und Kraft.“

Liebe Leser,
vielleicht wundern Sie sich, dass ich Ihnen zum Weltgebetstag für geistliche Berufe einfach von diesem Film erzähle, der nicht von Priestern und auch nicht direkt von Gott erzählt. Ich erzähle Ihnen davon, weil ich überzeugt bin, dass gerade diese Einblicke ins Leben der Reichtum des Seelsorgeberufes sind. Und ich erzähle Ihnen davon, weil ich glaube, dass Menschen sich im übertragenen Sinn nach Seelsorgern und Seelsorgerinnen im Kaliber eines Pietro sehnen:
Nach Menschen, die sich mit sich selbst auseinander setzen und vor sich selbst nicht ausreißen.
Nach Menschen, die das Leben um sich herum gut beobachten können und nicht im frommen Blick die Augen vor der Welt verschließen.
Nach Menschen, die tief in die Seele der Menschen schauen können und anderen dadurch helfen, zu sich selbst zu kommen und zu stehen.
Nach Menschen, die die Verlässlichkeit des Wohlwollens ernst nehmen und auch leben wollen.
Nach Menschen, die einen Blick voller Zärtlichkeit und Menschenfreundlichkeit für das oft so komplizierte Leben haben.
Mich wundert es nicht, das ein Filmkritiker bemerkte: „Irgendwie hat mich dieser Pietro in seinem Outfit und Verhalten an Jesus erinnert.“


Pfarrer Stefan Mai

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