Lasst euch die Neugier nicht austreiben

Predigt zum Weißen Sonntag 2009 (Lk 19,1-10)

Was wird wohl in dem Geschenk drin sein, das die Patin mitgebracht hat? denkt sich Lisa, als es ihr Tante Irene feierlich überreicht. „Für dich, mein Schatz, hab ich in München etwas ganz besonderes ausgesucht,“ meint sie. „Komm trag´s nüber ins Schlafzimmer,“ kommt die Mutter dazwischen, die Geschenke werden erst morgen nach der Andacht ausgepackt. Aber Lisa juckt es. Sie platzt fast vor Spannung. Was wird da wohl drinnen sein? Sie trägt das Päckchen ins Schlafzimmer hinüber und macht die Tür zu. Nur einmal kurz hineinspitzen, vielleicht erkenne ich dann schon am Karton, was da drin ist. Vorsichtig entfernt sie an einer Ecke den Tesa. Da geht die Tür auf und die Mutter steht da: „Mensch Lisa, sei doch nicht so neugierig!“

Ich denke, so manche/r von Euch Kommunionkindern bekommt diesen Satz heute zu hören: Sei doch nicht so neugierig.
Sei doch nicht so neugierig - ist auch oft die Reaktion, wenn Menschen mit dem Fragen nicht aufhören, dauernd nachbohren und nachhaken, um endlich die Antwort herauszubekommen.
Neugier wird oft als lästig empfunden, mehr als Laster als als Tugend eingestuft. Neugierige Menschen gehen vielen auf die Nerven, besonders dann, wenn man spürt: Die Neugier ist kein echtes Interesse, sondern lediglich Stoff für einen weiteren Tratsch.

Da macht es mich schon nachdenklich, was zwei große Forscher und Erfinder zu diesem Thema Neugier meinen. Galileo Galilei, der im Mittelalter entdeckte, dass die Erde eine Kugel ist, meinte: „Die Neugier steht immer an der ersten Stelle eines Problems, das gelöst werden soll.“ Und der große Mathematiker des letzten Jahrhunderts, Albert Einstein, konterte mit einer verblüffenden Antwort, als man seine große Begabung und sein Genie bewunderte: „Ich habe keine besondere Begabung, sondern bin nur leidenschaftlich neugierig.“

Es stimmt: Ohne Neugier wären keine fremden Erdteile entdeckt worden, ohne Neugier gäbe es keine Entdeckungen in der Wissenschaft, in der Medizin, in der Technik. Ohne Neugier hätte es keine Erfindungen gegeben. Und bei Kindern gibt es dann die größten Fortschritte im Lernen, wenn es Eltern und Lehrer verstehen, sie neugierig zu machen. Die Neugierde der Kinder ist der Wissensdurst nach Erkenntnis. Ich werde es nie vergessen, wie mir einmal eine alte Russlanddeutsche, die in einem jüdischen Dorf in der Ukraine aufwuchs, sagte: „Ich weiß, warum das jüdische Volk so intelligent ist. Die Juden gehen anders mit ihren Kindern um. Wenn wir daheim am Tisch waren, durften wir nichts fragen. In den jüdischen Familien war das anders. Da haben die Eltern dauernd zu ihren Kindern gesagt: Fragt, fragt und fragt!“

Ich behaupte auch: Ohne Neugier gäbe es auch kein Interesse am anderen Menschen. Ohne Neugier würden keine Freundschaften wachsen. Neugier ist Interesse am anderen Menschen, wie er denkt, wie er fühlt, wie er reagiert, was ihm wichtig und wertvoll ist, was ihm weh tut, wofür er brennt, wovor er Angst hat. Vielleicht stimmt es sogar, was einer einmal gesagt hat: Die Liebe besteht zu drei Viertel aus Neugier. Wenn ich auf einen Menschen nicht mehr neugierig bin, dümpelt die Beziehung einfach so dahin.

Ohne Neugier hätte es den klein gewachsenen Zachäus nie auf den Maulbeerfeigenbaum getrieben. Er platzte vor Neugier und wollte wissen, wie dieser Jesus ausschaut, wie er spricht, wie er sich verhält und mit Menschen umgeht. Ohne diese Neugier auf Jesus hätte nie eine Begegnung mit Jesus stattgefunden. Ohne diese Neugier wäre Jesus nie als Gast bei Zachäus eingekehrt. Ohne Neugier hätte sich das Schlitzohr Zachäus nie verändert.
Und ohne Neugier wäre der kleine Stephan unserer Bildergeschichte nie aufgebrochen, um diese Welt über dem Nebel zu entdecken. Ein Bild dafür, dass es mehr gibt als das, was wir sehen. Ja auch für den Glauben und die Religion gilt: Mit der Neugier beginnt´s.

Liebe Kinder, liebe Eltern

Stellt euch einmal vor: An eurem Kommuniontag würden sich Menschen nicht nur zusammensetzen, um gut zu essen, um zu feiern. Stellt euch einmal vor, da wären Kinder nicht nur neugierig auf die Geschenke. Stellt euch einmal vor, wir würden uns gegenseitig erzählen, wo wir neugierig waren auf Menschen, was wir Neues an Ihnen und für uns entdeckt haben, wie wir durch Neugier wichtiges für unser Leben gelernt haben. Was wir und wie wir wichtiges an Jesus und im Glauben entdeckt haben.

Ich würde erzählen, wie ich als Bub vor Neugier es immer nicht aushalten konnte, wenn draußen auf unseren Feldern die Keimlinge spitzten. Das war und ist bis heute für mich ein religiöses Urerlebnis. Genauso wenn ein neugeborenes Kälbchen zu Schnaufen begann und die jungen Gänschen Löcher in die Eierschalen klopften und ich dauernd nachguckte, ob sie schlüpfen.
Ich werde nie vergessen, wie ich als Kind auf der Empore in der Kirche neugierig neben meinem Vater stand und er immer mit seinem Finger darauf deutete, was er sang und ich immer staunte, woher er das alles kann, weil ich noch nicht lesen konnte und welches Aha-Erlebnis für mich war, als ich das selbst kapierte, wie das mit dem Singen geht.
Ich müsste meine erste Bibel mitbringen, die ich in der zweiten Klasse bekam. Ich spüre noch heute, wie mich spannend für mich die Kämpfergeschichten des David im AT waren und wie neugierig ich war, wie sie ausgehen.
Ich würde davon erzählen, wie ich in der Abiturklasse zum ersten Mal in München in einem großen Theater saß, und wie hin und weg ich war, als eine himmlische Musik im Stück „Der Brandner Kasper“ ertönte.
Und wie hat mich im Deutschunterricht in der Lektüre des Heimkehrer-Dramas von Wolfgang Borchert „Draußen vor der Tür“ die Stelle gepackt, wie Gott als alter tappeliger Mann daherschlurft und die Menschen sucht und immer nur sagt: Niemand glaubt mehr an mich!“
Ich müsste davon erzählen, wenn mich eine schwierige Bibelstelle beschäftigt, wie es mich vor Neugierde umtreibt, wenn ich darüber zu predigen habe und welches Glücksgefühl es ist, wenn ich nach einem Weg suche und plötzlich ein Einfall kommt.
Ich könnte schildern, wie sich in Bildern und Gedichten mir wichtige Weisheiten entschlüsseln. Und je älter ich werde, desto häufiger steigt in mir die Frage hoch: Wie werden sie uns drüben einmal empfangen? Und glaube ganz fest daran, dass Gott sich nicht lumpen lässt, uns Menschen nach diesem Leben einmal zu überraschen.

Ich wäre neugierig, was Sie zu sagen hätten. Was wäre das für eine Lebenshilfe für unsere Kinder!
Ich bin überzeugt,
das Lernen und Wissen,
die Freundschaft und Beziehung zwischen Menschen
und auch die Religion beginnt und lebt, wo Menschen neugierig werden wie dieser kleine Stepan und dieser kleine Zachäus.
Liebe Kinder, vergesst die beiden nicht. Lasst euch die Neugier nicht austreiben!


Pfarrer Stefan Mai

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