Wem unsere Gesellschaft die Füße wäscht

Predigt zum Gründonnerstag

12 Stühle im Altarraum. Eine Schürze, eine Wasserschüssel, ein Handtuch. Sie wissen, was gleich kommt. Im Unterschied zu den vergangenen Jahren war es diesmal ganz leicht, 12 Personen zu finden, die sich vor versammelter Gemeinde die Füße waschen lassen. Ja, sie haben sich förmlich dazu aufgedrängt. Und sie ließen es sich nicht nehmen, sich persönlich vorzustellen.

Die einzelnen Personen stellen sich vor

Ich bin das Handy. In jeder Hosentasche bin ich zu finden. Ohne mich kein Leben. Ich kriege alles mit – die intimsten Geheimnisse und die größten Lügen. Wie oft bin ich letzte Zuflucht und Seelentröster. Durch mich eröffnet sich der Zugang zur Welt: ins weite Meer des Internets. Ich bin den Menschen näher als jeder andere Mensch. Selbst wenn ich nicht klingeln darf, mache ich mich durch zärtliche Vibration bemerkbar. Mich musst du heutzutage einfach haben!
„Handy“ setzt sich auf den ersten Stuhl und hält das Plakat vor sich
„Diener“ „mit weißer Schürze und Handtuch über dem linken Arm stellt die Wasserschüssel vor das „Handy“, kniet nieder und verneigt sich bis zum Boden (so bei jeder nachfolgenden Figur)


Ich bin die „neue Welle“: Wellness nennen mich alle. Du plagst dich doch genug im Leben. Gönn’ dir doch mal was! Entspann dich! Tu deinem Körper was Gutes und lass’ die Seele baumeln. Lass dich verwöhnen durch Düfte und Gerüche, dich bezaubern durch Klänge und himmlische Musik. Komm zu mir in die Oase und du wirst verwandelt.
„Wellness“ setzt sich auf den zweiten Stuhl und hält das Plakat vor sich

Ich bin die Abwrackprämie. So billig war ein Auto noch nie. Nutz’ die Gunst der Stunde! Wer schenkt dir sonst 2500 Euro? Alte Stinker einfach auf die Müllhalde. Neues Fahrgefühl ist neues Lebensgefühl.
„Abwrackprämie“ setzt sich auf den dritten Stuhl und hält das Plakat vor sich

Ich bin das ECE. Spazierengehen und Shopping in einem. Einfach ein Event. Ein Schmaus für Augen und Ohren. Modernste Architektur. Ein lichtdurchflutetes Glasdach. 100 Fachgeschäfte. Brunnen. Schlemmerbereich. Bei mir kannst du alles finden, was dein Herz begehrt und was du im Leben brauchst.
„ECE“ setzt sich auf den vierten Stuhl und hält das Plakat vor sich

Ich bin das Horoskop. Im Bayerischen Rundfunk bin ich die Nummer 1 unter den Downlowds. Wann Widder ihre Karriere in Angriff nehmen, Stiere besser nicht auf stur schalten oder Skorpione sich leidenschaftlich verlieben; ganz gleich, ob Sie ein großzügiger Löwe sind, ein freiheitsliebender Wassermann oder ein sensibler Fisch: Bayern 3-Astrologin Leslie Rowe hat für jedes Sternzeichen an jedem Tag der Woche einen himmlischen Tipp.
„Horoskop“ setzt sich auf den fünften Stuhl und hält das Plakat vor sich

Ich bin Urlaub „all inclusive“. Essen und Trinken ohne Grenzen. In angenehmer Atmosphäre. Am Pool eine Bar. Am Meer ein Restaurant. Wo du gehst und stehst ein Drink bereit. Animation rund um die Uhr. Lass die Sorgen mal zuhaus’ und fühl’ dich wie Gott in Frankreich.
„Urlaub“ setzt sich auf den sechsten Stuhl und hält das Plakat vor sich

Ich bin dein Unterhalter: der Fernseher. Jetzt als Flachbildschirm dein Heimkino. Was wären deine tristen Stunden im Alter ohne mich? Die Fernbedienung in der Hand kannst du durch Welt der Programme zappen. Und außerdem: Ich sorge nicht nur für Abwechslung, ich bin auch das beste Schlafmittel.
„Fernseher“ setzt sich auf den siebten Stuhl und hält das Plakat vor sich

Ich bin der Rabatt. 44% gespart, auf alles 20 %, ab 1500 Euro Warenwert 300 Euro Gutschein. Durch mich kommst du zu mehr. Wer kauft, der spart!
„Rabatt“ setzt sich auf den achten Stuhl und hält das Plakat vor sich

Ich bin das Sparbuch. Ich war schon mal fast ausrangiert. Gehörte in die Hausmütterchen- und Omaecke. Alle wollten Aktien. Inzwischen weiß man, was man an mir hat.
Ich hab’s ja schon immer gesagt: Sicherheit ist besser als Risiko. Mit mir braucht man nicht zu zittern.
„Sparbuch“ setzt sich auf den neunten Stuhl und hält das Plakat vor sich

Ich bin das Häuschen im Grünen. Ich bin deine beste Kapitalanlage. Ich bin der Urlaub im Alltag. Die Festung in der Brandung der Hektik. Ich schenke dir Geborgenheit. Bei mir kannst du Mensch sein.
„Häuschen“ setzt sich auf den zehnten Stuhl und hält das Plakat vor sich

Ich bin die Bundesliga. Samstag Nachmittag ab 4 Uhr lasse ich die Herzen höher schlagen. Spiel. Spaß. Spannung und Emotion. Und die Krönung: ab 18 Uhr die Sportschau. Diese Zeit gehört mir allein. Da darf uns niemand stören.
„Bundesliga“ setzt sich auf den elften Stuhl und hält das Plakat vor sich

Ich bin die Fitness. Immer in Bewegung bleiben. Heute schon gewalkt? Heute schon Golf gespielt? Heute schon in der Sauna gewesen? Ich bin dein Lebenselexier! Von wegen: Mit 70 schon zum alten Eisen gehören! Mit mir bleibst du jung und fit!
„Fitness“ setzt sich auf den zwölften Stuhl und hält das Plakat vor sich

Liebe Leser, das sind die Personen, vor denen unsere Gesellschaft in die Knie geht. Vor denen unsere Gesellschaft Kratzfüße macht. Denen unsere Gesellschaft die Füße wäscht.
Der Gründonnerstag malt ein kräftiges Gegenbild: Als Jesus seinen Jüngern die Füße gewaschen hatte, sagte er zu ihnen: „Begreift ihr, was ich euch getan habe? … Wenn ich der Meister und Herr euch die Füße gewaschen habe, müsst auch ihr einander die Füße waschen. Ein Beispiel habe ich euch gegeben, damit auch ihr tut, was ich euch getan habe“ (Joh 13,12-15).
Diese Worte des Evangeliums im Ohr und die heutige Szenerie vor Augen frage ich mich: Wer sitzt in meinem Leben auf diesen Stühlen. Sitzen da überhaupt noch Menschen drauf? Vor wem gehe ich in die Knie? Wem wasche ich die Füße?

„Diener“ steht auf, nimmt die Schüssel und das Handtuch und legt beides auf einen Tisch im Mittelgang des Kirchenschiffes

Fürbitten

In der Nacht vor seinem Leiden hat Jesus uns und seinen Jüngern ein Beispiel des Dienens gegeben. Deshalb bitten wir:

– Für die Regierenden in der ganzen Welt: Bewahre sie davor, ihre Macht zu missbrauchen und lass sie durch ihr Reden und Handeln dem Wohl der Menschen dienen.
– Für die Verantwortlichen in unserer Kirche: Bewahre sie davor, sich als Herren über den Glauben zu verstehen und lass sie in Glaubwürdigkeit und Bescheidenheit dein Wort für unsere Zeit auslegen.
– Für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in unseren Gemeinden: Bewahre sie davor, sich über andere zu erheben und lasse sie mithelfen, lebendige Gruppen und Gemeinschaften aufzubauen.
– Für uns selbst: Bewahre uns davor, auf andere herabzuschauen und lass uns das Vorbild Jesu ständig vor Augen stehen.

In seinem Wort und seinem Mahl will uns Jesus die Kraft schenken, seinem Beispiel zu folgen. Dafür danken wir dir an diesem Abend.


Pfarrer Stefan Mai

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