Das Wünschen lernen

Predigt zum Neujahr 2009

Zu keiner Jahreszeit im Jahr wird so viel gewünscht wie in der letzten Woche des Jahres: „Frohe Weihnachten!“ und „Schöne Feiertage!“ Wem das zu wenig ist, der wünscht: „Gesegnete Weihnachten!“ Oder: „Ein frohes Christfest!“. Und ein paar Tage später geht es weiter: „Guten Rutsch!“ - „Guten Beschluss!“ Oder: „Komm' gut nüber!“ - „Treib's net zu bunt!“ Und heute am Neujahrstag heißt es: „Prost Neujahr!“ - „Ein gutes neues Jahr!“ oder gut fränkisch: „Ein glückseliges Neues Jahr!“ Und mancher fügt hinzu: „Wie wir hereingekommen sind, das wissen wir, aber wie werden wir wohl herauskommen?“
Und jeder, der versucht, auf einer Weihnachtskarte einen wirklich persönlichen Wunsch zu formulieren oder heute am Neujahrstag mehr als nur eine Floskel zu sagen, der weiß, wie schwer das ist. Dass der Wunsch nicht zu geschwollen und zu dick daherkommt, andererseits auch nicht nach 0815 klingt - da kann einem der Kopf ganz schön rauchen.
Davon weiß der 1943 in Böhmen geborene Schriftsteller Peter Kurzeck nur zu gut zu erzählen. Er kam als Drei-Jähriger nach der Vertreibung nach Hessen, wo er mit seiner Mutter und seiner Schwester lebte. Peter ist noch nicht ganz fünf Jahre alt, als Schlapps Ernst, der Kaufladenbesitzer, das erste Auto im Dorf bekommt. Peter hat nur einen Wunsch: Er möchte mit Ernst Schlapp in seinem neuen Auto fahren. Aber wie teilt man als fünfjähriges Vertriebenen-Kind einem angesehenen eingesessenen Geschäftsmann seinen Wunsch mit? Peter überlegt sich, wie er Herrn Schlapp fragen kann, ohne ihn zu drängen, legt sich seine Worte zurecht - und macht sich auf den Weg. Ihm gelingt es, sich von der Vorzimmerdame nicht abwimmeln zu lassen und zu Herrn Schlapp vorgelassen zu werden. Dann fängt er zu stottern an: „Herr Schlapp, wenn Sie mal wieder mit Ihrem Auto fahren täten und täten mich mitnehmen, dann tät ich gern mitfahren.“ Herr Schlapp schmunzelt - und meint: „Ja, ist in Ordnung. Ich halt dann bei euch vorm Haus und tu hupen. Und dann kommste raus!“
Im Rückblick auf dieses Erlebnis kommentiert der Schriftsteller diese Episode so: „Das hat mir gezeigt, dass es Sinn macht, sich etwas zu wünschen; dass man lernt zu wünschen und dass man in die Welt geht und gut wünschen lernt. Und dass man dann auch alles tun muss natürlich, damit diese Wünsche sich erfüllen.“
Liebe Zuhörer, ich denke, es ist ein Phänomen unserer Zeit, dass Menschen oft maßlose Wünsche haben, aber sich nicht mehr trauen, ihre Wünsche auszusprechen - aus Angst, sie könnten dadurch auf die Gnade anderer angewiesen sein oder in Abhängigkeit von anderen geraten. Und mir scheint: Wir haben die Kunst verlernt, unter den vielen Wünschen die realistischen auszuwählen und sie dann so auszusprechen, dass sich der andere nicht bedrängt fühlt. Da kann es ruhig so umständlich werden wie bei dem kleinen Peter. Wenn ein Wunsch von Herzen kommt und lange überlegt ist, das merkt der andere.
Und im Übrigen: Wenn die Kirche nicht an den Sinn und die Erfüllbarkeit von Wünschen glauben würde, dann stünde am Ende eines jeden Gottesdienstes nicht der Segenswunsch. Sie ist überzeugt: Wo ein Wunsch ehrlich ausgesprochen wird, da kommt auch Hilfe.

Den Literaturhinweis verdanke ich Thomas Meurer, in: CiG 1/2008.


Pfarrer Stefan Mai

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