Spuren des Alltags

Predigt zu Silvester 2008

Einleitung

Der geistliche Schriftsteller Klaus Nagorni formuliert zum Ende eines Jahres folgende Fragen zur Selbsterforschung:

Auf welchen Schultern stehst du?
In welchen Spuren gehst du?
Mit welchen Augen siehst du?
In welchen Büchern liest du?
Mit welchem Segen lebst du?
An welchen Plänen webst du?
An welchen Orten weilst du?
Und wessen Leben teilst du?

Welche dieser Fragen spricht Sie am Ende dieses Jahres besonders an?

Auf welchen Schultern stehst du?
In welchen Spuren gehst du?
Mit welchen Augen siehst du?
In welchen Büchern liest du?
Mit welchem Segen lebst du?
An welchen Plänen webst du?
An welchen Orten weilst du?
Und wessen Leben teilst du?

Predigt

Bei unserm Schweinfurter Dichter Friedrich Rückert sind die Verse zu finden:
Du bringst nichts mit hinein,
Du nimmst nichts mit hinaus.
Lass eine goldene Spur
Im alten Erdenhaus!
Schön wär's, wird mancher denken. Ich bemüh' mich ja auch drum. Versuche meinen Beruf ernst zu nehmen. Es den Menschen Recht zu machen, mit denen ich zusammenlebe. Aber „goldene Spuren“ werde ich sicher keine hinterlassen. Dafür ist mein Leben zu banal.
Und trotzdem: Manchmal sind es die banalen Spuren des Alltags, vor denen man Ehrfurcht bekommt. Im Josefs Krankenhaus in Schweinfurt gibt es noch den alten Treppenaufgang. Seit Jahren ist er außer Betrieb. Und doch bin ich jedesmal, wenn ich einen Gottesdienst für die Schwestern gehalten habe, diesen Treppenaufgang gegangen: Die Marmorstufen sind ausgetreten. Man sieht genau, wo die Menschen hinaufgegangen sind zu ihren Angehörigen. Die einen wegen eines freudigen Ereignisses: der Geburt eines Kindes. Die anderen mit schwerem Herzen: Wie wird es heute meinem Mann auf der Intensivstation gehen? Und mir scheint: Alles hat seine Spuren auf den Treppen hinterlassen. Und nur wer selbst einmal diese Truppen mit leichtem oder schweren Herzen gegangen ist, weiß, dass alles im Leben im Spuren hinterlässt.
Wenn Sie heute am Silvesterabend auf die Spuren dieses Jahres zurückschauen, dann sind vielleicht drei, vier besondere Tritte dabei. Alles andere sind diese banalen Alltagsspuren. Meine immer gleichen Gänge in der Wohnung, zur Arbeit, beim Einkaufen, beim Spazierengehen. Nie ist etwas Besonderes passiert. Aber an manchen Tagen haben die Sorgen ungeheuer schwer gedrückt. Manchmal der Gedanke: Ach, wenn der Gang nur schon vorüber wäre! Und manche Wege bist du wie im Flug gegangen, leicht, locker, unbeschwert. Aber auch dieses Gefühl ist schnell verflogen.
Es kann sein, dass du das alles vergessen hast. Erst beim bewussten Nachdenken steigen diese banalen Spuren wieder in dir auf ...

- leise Orgelmusik (1 Min) -

Liebe Leser,
die ausgetretenen Stufen des Josefs Krankenhauses sind für mich eine gute Silvesterlektion. Sie sagen mir: Hab Achtung und Ehrfurcht vor dem ganz Normalen, das meistens schnell vergessen wird, und das doch in dem Moment, in dem es bestanden werden muss, so schwer für einen selbst - und so wichtig für den anderen sein kann.


Pfarrer Stefan Mai

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