Gemäß dem Gesetz

Predigt zum Familiensonntag

40 Jahre ist es nun her, die große Kulturrevolution in Europa: die 68-Revolte. Die Studenten an den Hochschulen lehnten sich gegen die traditionellen Autoritätsstrukturen in unserem Land auf. Alle alten Zöpfe sollten abgeschnitten werden. Nur nicht so werden wie die eigenen Eltern, war die große Devise. Die Kinder anders erziehen. Antiautoritäre Erziehung war das neue Bildungsideal. Ein neuer Kleidungsstil kam auf: Alles, was nach „ordentlich“ und „chick“ roch, war verpönt. Sonntagskleider - das war einmal! Und erst Recht, was Tradition und Riten anging. Das war etwas für Dumme und hoffnungslos Rückständige. Der freie Mensch erfindet sich jeden Tag neu. Er reagiert spontan und belastet sich nicht mit dem Staub der Jahrhunderte!
Ja, das ist 40 Jahre her.
Inzwischen ist eine neue selbstbewusste Jugend herangewachsen: Für sie ist Ritus wieder „in“. Tradition hat wieder Stil. Zur Abschlussfeier kommt man in Anzug und langem Kleid. Und - das ist der neueste Trend - selbst wenn man kein Kirchgänger ist, für die Abiturfeier besteht man auch in großen Städten wieder auf einen Gottesdienst. Alles muss Stil und Rahmen haben.
Ich glaube, intuitiv spüren junge Menschen: Man kann sich nicht täglich neu erfinden; man kann sich nicht für jede Situation eine spontane und zugleich passende Verhaltensweise neu ausdenken. In vorgegebenen Riten steckt die Weisheit von vielen Generationen. Festrituale legen ein Raster über den Ablauf eines Jahres. Riten, die an Wendepunkten des Lebens zelebriert werden, geben Sicherheit und Halt - und sie entlasten. Sie sagen mir: Du klinkst dich ein in das Geschick von so vielen, die an den gleichen Wendepunkt wie du gekommen sind. Riten sind wie ein Geländer, an dem man sich erst einmal entlangtasten kann.
Und: Ob es die Jugendlichen gemerkt oder nicht: Riten machen frei von dem Überforderungsdruck und der übersteigerten Erwartungshaltung, die auf der Kleinfamilie lasten.
Wenn ein Kind geboren wird, dann machen sich die Eltern viele Gedanken: Was wird aus unserem Kind werden. Werden wir ihm gerecht? Wie können wir dazu beitragen, dass es eine gesunde Entwicklung nehmen kann?
Ist unser Erziehungsstil richtig, nicht zu einschüchternd, aber auch nicht zu lasch? Sind wir überhaupt fähig, unserem Kind etwas mitzugeben? Oder übertragen wir nur unsere eigenen Unsicherheiten und Fehler?
Und alle Eltern spüren: Trotz guten Willens - wir haben das Leben und die Entwicklung unserer Kinder nicht in der Hand.
Wenn eine Familie ihr Kind zur Taufe trägt - kann das alles in einem anderen Licht erscheinen. Der Taufritus macht ihnen klar: Als Kleinfamilie stellen wir unser Kind in einen größeren Rahmen und Sinnzusammenhang. Der Ritus sagt ihnen:
Unser Kind gehört nicht allein unserer Familie.
Unser Kind gehört nicht der Gesellschaft.
Unser Kind gehört auch nicht der Kirche.
Unser Kind gehört zuallererst Gott.
Und das bedeutet: Wir können den Weg unseres Kindes nicht steuern. Wir können nur eines: darum beten, dass Gott unser Kind sich so entwickeln lässt, wie er es für sich gedacht hat.

Liebe Leser,
im heutigen Abschnitt aus der Kindheitsgeschichte des Lukas wird gleich dreimal erzählt: Die Eltern Jesu handeln „gemäß dem Gesetz“, gemäß den traditionellen religiösen Riten. Und es doch sehr verwunderlich - und auch für heutige Familien befreiend: Dieser Jesus, der ganz streng nach den religiösen Riten seines Volkes erzogen wird, macht sich ganz frei von seiner Familie und geht seinen eigenen Weg.


Pfarrer Stefan Mai

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