Neu anfangen

Predigt zum 2. Adventssonntag (Mk 1,1-8)

Als ich im Jahr 1993 ins Pfarrhaus St. Maximilian Kolbe in Schweinfurt einzog, da hing an der Eingangstür ein Aufkleber: ein kleines buntes „a“. „Neu anfangen“ stand darunter. Die Pfarrgemeinde am Deutschhof hatte dieses a nicht für ihren neuen Pfarrer an die Tür geklebt. Dieses bunte kleine „a“ war das Emblem für die große Aktion „neu anfangen“, in der im Jahr 1992 alle Christen in Schweinfurt eingeladen wurden, neu über ihren Glauben nachzudenken und über ihn intensiver ins Gespräch zu kommen.
Wie oft hatte ich in den 15 Schweinfurter Jahren die Eingangstür mit dem kleinen bunten „a“, das ich nie entfernt habe, in der Hand, ohne mir dabei viel zu denken. Erst als ich wusste, jetzt fange ich bald im Steigerwald neu an, ist mir dieses Türschild jedes Mal ins Auge gefallen – und brachte mich zum Nachdenken.
Neu anfangen, sagte es mir, das bedeutet: Altes zurücklassen, neue Gesichter, neue Strukturen, viel Unbekanntes, das bedeutet Unsicherheit aushalten. Das bedeutet aber auch neue Herausforderung, neuer Reiz. Das bedeutet genau hinschauen, scharf beobachten, genau hinhören, Untertöne wahrnehmen. Das bedeutet, neue Kräfte mobilisieren, den Willen, es gut zu machen. Neu anfangen, das ist immer eine intensive Lebensphase.
Sicherlich, große Neuanfänge, die gibt es in einem Menschenleben nur ein paar Mal. Das sind die großen Entscheidungen für einen Beruf, für einen Partner, für die Familie. Das sind berufliche Umorientierungen, Umzüge, das sind die Kräfte aufwändigen Neuanfänge nach Krisen und Scheitern.
Aber neu anfangen, das ist so oft mitten im Alltag ganz unverhofft Gebot der Stunde. Wieder neu anfangen zu reden, wenn stumm miteinander gebockt wurde oder hilflose Sprachlosigkeit war. Wenn mein guter Vorsatz wieder einmal nicht lang gehalten hat, trotzdem wieder zu sagen: Auf ein Neues. Einmal nicht krampfhaft, aber ganz bewusst versuchen, an meiner geschwätzigen Arbeitskollegin, die ich schon jahrelang kenne, eine neue Seite zu entdecken. In einer Vereinssammlung oder in einer Sitzung eines Pfarreigremiums nicht gleich mit dem Totschlagargument daherkommen: „Bei uns war des scho’ immer so!“, sondern sich einmal ganz bewusst fragen: Wenn es noch keine festgelegten Strukturen, Traditionen und Abläufe gäbe, was wäre jetzt Gebot der Stunde, auf die veränderte Verhältnisse und neuen Herausforderungen unserer Zeit zu reagieren? Wieder einmal anfangen, ein Buch in die Hand zu nehmen, statt Dauerberieselung über Multimedia. Wieder anfangen, neu über die Beziehung zum Partner nachzudenken, wenn nach 30 Ehejahren, der letzte Sohn außer Haus ist: Wie gestalten wir jetzt unser gemeinsames Leben neu?

Liebe Leser, heute am 2. Advent haben wir den großen majestätischen Anfang des Markusevangeliums gehört: „Anfang des Evangeliums von Jesus Christus, dem Sohn Gottes: Es begann, wie es beim Propheten Jesaja steht“ (Mk 1,1). Stellen Sie sich nur einmal vor, die alten Texte der Evangelien wären Ihnen völlig unbekannt. Sie würden innerlich nicht sagen: „Ach kenne me scho!“ – und nur noch mit einem Ohr hinhören. Sondern im Gegenteil, Sie würden ganz gespannt und ganz neu hinhören und den Wunsch haben, etwas Neues an den Schätzen der Bibel zu entdecken ... Glauben Sie nicht, dass eine solche Haltung eine persönliche Bereicherung und ein immenses Veränderungspotential für unsere Kirche und Gesellschaft darstellen würde?


Pfarrer Stefan Mai

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