Wie ticken die Christen?

Predigt zur Pfarreinführung von Stefan Mai für die Pfarreiengemeinschaft „Franziskus am Steigerwald“ in Gerolzhofen am 1. Advent 2008

Im Sommer dieses Jahres haben Forscher der Uni Duisburg-Essen eine interessante Entdeckung gemacht: Kühe ticken in Nord-Süd-Richtung. Die Forscher haben dafür vier Monate lang über Satelliten Kühe auf Weiden in der ganzen Welt beobachtet. Sie haben herausgefunden: Beim Fressen und beim Schlafen nehmen die Kühe in der freien Natur fast immer eine Nord-Süd-Richtung ein. Kühe haben einen sechsten Sinn, eine Art Magnetsinn, der sie wie ein Kompass die Nord-Süd Richtung bevorzugen lässt.
Kühe ticken in der Nord-Süd-Richtung. Ich frage mich: Wie ticken wir Menschen? Ich habe den Eindruck, es gibt vor allem zwei Richtungen. Einmal eine klare Süd-Ausrichtung. Für Menschen mit dem Süd-Tick ist der jährliche Urlaub im warmen Süden das wahre Lebenselexier. Es wird auf den Urlaub hin gelebt und vom Urlaub her gelebt. Der Urlaub entschädigt für so manche Mühe während des Jahres. Die Sonne des Südens: welche Kraftquelle!
Und dann gibt es die West-Ausrichtung. Der Blick nach Amerika. Wie bereitwillig werden die Innovationen aus dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten aufgegriffen. Amerikanischer Lebensstil, bei uns nicht mehr wegzudenken. Ein Leben ohne Coca Cola, ohne Big Mac, ohne Google, ohne WindowsXP. ohne Navigationssystem, ohne neuestes Apple-Handy, ist das überhaupt noch vorstellbar?
Kühe ticken Nord-Süd. Menschen ticken Süd oder West. Ich frage mich: Ticken Christen anders? Ehrlich gestanden, ich bin unsicher. Aber ich weiß: Es gab Zeiten, da tickten sie anders. Wir brauchen nur unsere Kirchen anzuschauen.
Wenn es irgendwie ging, gaben unsere Vorfahren den Kirchen eine klare Ost-Ausrichtung. Sie wollten beim Gottesdienst am Sonntagmorgen vom Licht aus dem Osten beschienen werden. Die im Osten aufgehende Sonne war für sie ein Symbol für Christus. In dieses Licht wollten sie sich selber stellen. Sie hatten die Sehnsucht, dass dieses Licht in ihr Leben hineinscheint. Von diesem Licht wollten sie erwärmt und aufgeladen werden, um selbst wieder etwas ausstrahlen zu können.
Das ist in Gerolzhofen genauso. In einer Zeit, in der die Menschen hier in kleinen, verrußten Häusern wohnten – mit winzigen Fenstern, die nicht einmal Glas hatten, sondern mit Schweinsblasen überzogen waren, da bauten sie im späten 15. Jh. eine große gotische Kirche – mit einem lichtdurchfluteten Raum. Und das Morgenlicht kommt natürlich aus dem Osten. Von diesem Licht wollten die Menschen des Mittelalters beschienen werden.
Im vergangenen Sommer, als ich schon wusste, dass ich demnächst Pfarrer der Pfarreiengemeinschaft „Franziskus am Steigerwald“ werde, bin ich einmal durch die Dörfer der Pfarreiengemeinschaft gewandert, habe mir die Kirchen angeschaut – und habe mich auch hier in die Gerolzhöfer Kirche gesetzt. Es war am Morgen, an einem sonnigen Tag. Das Licht aus dem Osten flutete durch den barocken Altaraufbau hindurch – gebrochen durch vier Figuren oben links und rechts vom Tabernakel. Jeder kennt sie, die Männer mit dem Löwen, dem Stier, dem Adler und dem Engel: die vier Evangelisten. Über sie fließt das Licht weiter hinein in den Kirchenraum.
Für mich waren diese Minuten wie eine Predigt. Mir wurde klar: So ist Kirche gemeint. Kirche, das sind Menschen, die ticken nach diesem Licht aus dem Osten.
Die leben zwar im Reklamelicht unserer Zeit, die arbeiten im Neonlicht der Büros, die haben ihren Spaß am Discolicht, aber sie spüren: Wir brauchen auch dieses ganz andere Licht aus dem Osten.

Wie oft singen wir: „Dein Wort ist Licht und Wahrheit, es leuchtet mir auf allen meinen Wegen.“ Darin sehe ich meine eigentliche Aufgabe: mit den Menschen hier im Steigerwald auf die Spurensuche zu gehen, wie das Wort des Evangeliums Licht auf den verschiedenen Wegen unseres Lebens werden kann.
Es wird eine Überlebensfrage für uns Christen sein: Wie packen wir’s an, dass Kinder überhaupt einen Blick für dieses Licht des Glaubens bekommen? Dass sie zu ahnen beginnen: Auch wenn du Gott nicht sehen kannst, er steht hinter allem. Er ist die geheimnisvolle Macht, die unser Leben trägt. Wie werden wir’s schaffen, dass unsere Kinder diesen Glauben an uns selbst ablesen können?
Es wird eine Lebensaufgabe sein: Wenn Kräfte schwinden, wenn Krankheit zusetzt, wenn Schicksalsschläge sprachlos machen, wie kann ich mir dann diesen Glauben bewahren: Gott geht alle Wege des Lebens mit. Er geht mit in die Depression, er geht mit in die Einsamkeit des Alters, er geht mit ins Altersheim, mit ins Krankenhaus, mit ins Sterbezimmer. Sein Licht leuchtet auch in die Schatten der Verzweiflung und des Todes hinein.
Es wird eine Herausforderung für junge Erwachsene sein: Wenn von überall her an mir gezogen wird, wenn von vielen Lichtern auf mich Reiz ausgeht und sie mich verlocken, wie finde ich in dieser bunten Lichterwelt Orientierung? Kann mir dieses Licht des Glaubens einen Weg zeigen, der zu meinem Leben passt, es anfragt, es aber auch bereichert?
Es wird eine große Anfrage für die mittlere Generation sein, die die Hauptlast des Lebens zu tragen hat: Wenn von allen Seiten der Erwartungsdruck auf uns lastet, wenn wir das Gefühl haben, den vielen Aufgaben einfach nicht mehr gewachsen zu sein, wenn dann für Gebet und Gott oft keine Zeit mehr bleibt. Wie können wir dann diese Sehnsucht des Glaubens in uns wach halten: nach einem Ruhepunkt, der uns Gelassenheit schenkt, nach einem milden, gütigen Licht, das sich über unseren Alltag legt?
Liebe Leser,
unsere Pfarreiengemeinschaft „Franziskus am Steigerwald“ hat mit Franz von Assisi einen Patron gewählt, dessen Leben durch ein Wort des Evangeliums völlig auf den Kopf gestellt wurde. Unsere Pfarreiengemeinschaft trägt den Namen eines Mannes, der sein ganzes Leben darum gerungen hat, wie das Licht des Evangeliums im Alltagsleben sichtbar werden kann. Am Ende seines Lebens hat er wie in einem Testament in einem Brief an seinen Orden noch einmal zusammengefasst, was ihm wichtig war. Ich denke, diese Worte gelten auch uns: „Dazu hat Gott euch in die Welt gesandt, dass ihr durch Wort und Werk seiner Stimme Zeugnis gebt und alle wissen lasst, dass niemand allmächtig ist außer ihm.“


Pfarrer Stefan Mai

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