Das Examen Jesu

Predigt zum Christkönigssonntag

Im Jahr 1973 musste das Griechisch-Abitur an den bayerischen Gymnasien verschoben werden, weil an einem Gymnasium die Prüfungsaufgaben verschwunden waren.
Jeder von uns, der in seinem Leben Prüfungen und Examen hinter sich hat, jeder, der als Jugendlicher noch eine Latte Prüfungen vor sich hat, kennt den Wunsch, die Fragen wichtiger Examen zu erahnen, sie vorher zu wissen, um sich darauf einstellen und sich gründlich vorbereiten zu können.
Das heutige Evangelium macht kein Geheimnis aus den Prüfungsfragen, auf die es am Ende einmal ankommt. Die Prüfungsfragen sind bekannt. Sie lauten:
Ich war hungrig und ihr habt mir zum Essen gegeben.
Ich war durstig und ihr habt mir zum Trinken gegeben.
Ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich aufgenommen.
Ich war nackt und ihr habt mir Kleidung gegeben.
Ich war krank und ihr habt mich besucht.
Ich war im Gefängnis und ihr seid zu mir gekommen.

Dieses Evangelium behauptet provozierend: Vor Gott wird es am Ende keine theologischen oder kirchlichen Examina geben. Es wird nicht zählen, ob ich getauft bin. Es wird nicht zählen, wie oft ich in die Kirche gegangen bin, wie viele Stunden ich gebetet habe, an wie viel Meditationskursen und kirchlichen Bildungsveranstaltungen ich teilgenommen habe. Es wird kein Katechismuswissen abgefragt. Und Herz und Nieren werden nicht auf Rechtgläubigkeit untersucht.
Es wird auf ein einziges Kriterium ankommen, auf das Kriterium der spontanen und nicht berechnenden Menschlichkeit.

Eigentlich ist dies befreiend. Da werden die entscheidenden Kriterien offen gelegt. Das einzige, was vor Gott einmal zählen wird, ist die ungeheuchelte Menschlichkeit.
Und doch spüre ich bei der Dringlichkeit dieses Appells zur Menschlichkeit eine schleichende Überforderung. Wie oft empfinde ich mich ohnmächtig gegenüber so vielfältiger Not. Wen beschleicht nicht das Gefühl, zu wenig getan zu haben, zu unsensibel gewesen zu sein, zu blind, um versteckte Not zu sehen, zu taub, um die Hilferufe zu hören. Aber wir müssen genauer hinhören. Da heißt es nicht: Ich war hungrig und du hast mir zu essen gegeben! Nein, da heißt es: Ihr habt mir zu essen gegeben. Da heißt es nicht: Ich war fremd und du hast mich aufgenommen. Nein es heißt: Ihr habt mich aufgenommen. Ist das Zufall? Nein, für mich ist das nicht Zufall, sondern geradezu die Sinnspitze des Evangeliums. Dieses Evangelium fragt mich nicht als einzelnen an, sondern fragt von vorneherein die christlichen Gemeinden. Es stellt an uns als christliche Gemeinde die Frage: Seid ihr vielleicht zu sehr mit euch selbst beschäftigt, mit eurem Organisieren von Pfarreiengemeinschaften, mit Gründung von Ausschüssen und Projekten und spürt vielleicht gar nicht mehr, was bei euch los ist, wonach Menschen sich wirklich sehnen und worunter sie leiden?
Das heutige Evangelium provoziert. Es fragt nicht danach, ob die Gottesdienste in allen Dörfern abgedeckt sind. Es stellt den christlichen Gemeinden als Kardinaltugend vor Augen, Schutzraum für Menschen zu sein, die nicht akzeptiert und nicht beheimatet sind. Dieses Evangelium malt als entscheidendes Profil für christliche Gemeinden einen Ort, an dem Bloßgestellte nicht an die Wand gedrückt, Schuldbeladene nicht fertig gemacht und Kranke nicht aufs Abstellgleis gekarrt werden.

Dieses Evangelium weiß aber auch darum, dass die Nöte und Probleme einer Gesellschaft viel zu komplex sind, als dass sie ein einzelner lösen oder tragen könnte und so schärft es der Gemeinde als ganzes diese Verantwortung ein.
Meisterhaft hat dies schon Gregor von Nyssa im 4. Jh. erkannt, wenn er bei der Auslegung dieser Gerichtsszene schreibt: „Gott verlangt von dir nichts Außergewöhnliches. Gib, was du hast. Wenn du Brot hast, gib Brot, ein anderer einen Becher Wein, ein nächster ein Gewand. So wird das Unglück eines einzelnen durch das Zusammenwirken vieler aufgehoben.“
Das klingt so einsichtig, aber zugleich spüre ich: In diesem Zusammenwirken vieler haben wir in unseren Pfarrgemeinden noch viel zu lernen.


Pfarrer Stefan Mai

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