Ins Paradies mögen Engel dich geleiten ...

Predigt zum Allerseelentag

In einem einprägsamen Gedicht lässt Albrecht Goes eine Mutter folgende Worte an ihr Kind sprechen:

Klein ist, mein Kind, dein erster Schritt,
Klein wird dein letzter sein.
Den ersten gehen Vater und Mutter mit,
Den letzten gehst du allein.


Unendlich traurig, diese Zeilen! Welch freudiges Ereignis für einen Vater oder Mutter, die ersten selbstständigen kleinen Schritte ihres Kindes beobachten und begleiten zu dürfen. Aber die Schritte des Alters werden ebenso wieder klein sein und „den letzten gehst du ganz allein“ – so läuft der Lebensbogen. Macht mir dieses Wort Angst? – ist das wahr?

Sicherlich: Vom Land der Lebenden kann kein Mensch mit hinübergehen, über die Schwelle des Todes. Liebe und vertraute Menschen können uns bis an die Schwelle begleiten. Aber weiter kann niemand mit uns gehen. Wir müssen die letzte Reise allein antreten!
Aber wie oft erzählen Menschen, die dem Tod nahe sind, dass ihnen bei der letzten Reise von drüben jemand entgegenkommt, wie z. B. Waltraud.
„Im Traum sieht die 84-jährige Waltraud, wie Erna vor ihrer Haustür steht. Sie schaut noch einmal auf das Namensschild, um sich zu vergewissern, dass sie auch richtig ist. Dann klingelt Erna. Waltraud öffnet ihr die Tür. Sie erkennt gleich, dass es ihre Freundin Erna ist. Waltraud hat sie schon lange nicht mehr gesehen, denn Erna ist 1967 an Krebs gestorben. Waltraud fragt ihre Freundin: „Erna, kommst du mich holen?“ – „Ein ganz klein wenig Zeit hast du noch“, antwortet Erna. Waltraud will Erna umarmen, doch sie ist in die Mauer entschwunden. Dann ist Waltraud aufgewacht. Sie sagt: „Die Tränen liefen mir übers Gesicht, obwohl ich nicht traurig war. Im Gegenteil. Ich weiß, dass mir nicht mehr viel Zeit bleibt. Und dass Erna mich abholt, das hat mir die Angst vor dem Tod genommen. Sie ist damals in meinen Armen gestorben. Aber das ist 40 Jahre her. Ich gebe zu, dass ich nicht mehr oft an Erna gedacht habe. Wenn ich im Garten die eine oder andere Blume sah, habe ich schon manchmal gedacht: Die hätte Erna auch gefallen. Erna war mir zu Lebzeiten eine große Stütze und hat mir auch finanziell geholfen. Ohne sie hätte ich manches nicht tun können. Sie war gewissermaßen mein Vorbild. Und nun steht sie plötzlich vor meiner Tür. Nun ist Erna der Engel, den der Himmel mir schickt, um mich abzuholen.
(Beispiel aus P. Ceelen, Bei sich zuhause sein, S. 114)


Liebe Leser,
kann ich das glauben: Ich muss die letzte Reise nicht allein antreten? Wer wird mich am Ende an die Hand nehmen und mich über diese letzte Schwelle begleiten? Wer wird mein Engel sein? Wer wird uns abholen? Meine Mutter, die mich zur Welt gebracht hat? Mein Vater mit seinem leise lächelnden Blick? Mein Mann, den ich so lange gepflegt habe? Meine Frau, ohne die mein Leben so leer geworden ist? Ein langjähriger Freund? Eine Freundin, die mich verstanden hat? Wer wird mein Engel sein? Wer wird mich ans Licht führen? Wer?
Ich wünsche es mir, dass ein Mensch, der mir hier auf Erden nahe stand, kommen wird und dorthin gehen wird, wo kein Fuß stehen kann. Diese Hoffnung hält in mir unser alter christlicher Hymnus lebendig, den ich immer ganz bewusst singe, bevor wir uns mit dem Sarg auf den Weg zum Grab machen: Ins Paradies mögen Engel dich geleiten ... dich führen in die heilige Stadt Jerusalem. Die Chöre der Engel mögen dich empfangen ...

Die Orgel intoniert den Hymnus „Zum Paradies mögen Engel dich begleiten...


Pfarrer Stefan Mai

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