„Man kann nur glauben, wenn man schon einmal gestorben ist...“

Predigt zum 25. Sonntag im Jahreskreis (Phil 1,20-24.27a)

In einem Fernsehinterview, das im Lauf des Gesprächs sehr ins Persönliche gegangen ist, hat die inzwischen verstorbene evangelische Theologin Dorothee Sölle den Satz fallen lassen, „ Man kann nur glauben, wenn man schon einmal gestorben ist.“ Der Gesprächspartner war verdutzt und fragte nach: „Wie ist das, haben Sie das schon erlebt?“ Dorothee Sölle hielt einen Augenblick inne und sagte dann: „Ja, im Zusammenhang mit meiner Ehescheidung ...“ Und sie erzählte, wie sie vergeblich versucht hat, den Verlust der Beziehung zu ihrem Ehemann zu verwinden, zu verarbeiten, ja zu sterben, wenn auch ohne Suizidversuche. Schließlich sei es zu einer Art Durchbruchserlebnis in einer Kirche gekommen. In ihrem Gebet ist ihr ein Pauluswort eingefallen, gegen das sie sich immer gesperrt hat: „Lass dir an meiner Gnade genügen!“ „Ich fing an,“ so erzählte Dorothee Sölle weiter, „zu akzeptieren dass mein Mann einen anderen, seinen eigenen Weg ging. Ich war am Ende, und Gott hatte meinen ersten Lebensentwurf zerrissen. Er hatte mich nicht getröstet wie ein Psychologe. Er warf mich mit dem Gesicht zu Boden. Es war nicht einmal der Tod, den ich wünschte, geschweige denn das Leben. Es war ein anderer Tod. Später habe ich gemerkt, dass alle, die glauben, ein wenig hinken, wie Jakob, nachdem er mit dem Engel gekämpft hat. Sie sind schon einmal gestorben. Man kann es niemanden wünschen, aber auch nicht versuchen, es ihm durch Belehrung zu ersparen. Die Erfahrung des Glaubens ist ebenso wenig ersetzbar wie die Erfahrung der Liebe. Einzig Erfahrung ist evident.“

Dieser Paulus ist mehr als nur einmal in seinem Leben gestorben. Den ersten Tod starb er, als er vor Damaskus aus der Bahn gekippt wurde und er, sein bisheriges Leben, starb. Er musste völlig neu anfangen, wusste nicht, wie das gehen soll, ob ihn die christliche Gemeinde als ehemaligen Verfolger überhaupt annimmt. Und auch sein neues Leben als christlicher Missionar stand unter dem Vorzeichen vieler Tode: „Ich werde ihm zeigen, wie viel er um meines Namens willen leiden muss (Apg 9,16), diese Worte, die Gott dem Hananias ausrichten lässt, als er ihn zu Paulus nach Damaskus schickt, stehen wie ein Vorzeichen vor der Klammer des neuen Lebens. Wie oft stirbt Paulus den Tod des Nicht-Verstandenwerdens. Wie oft wird er angefeindet und fortgejagt aus den Gemeinden. Wie viele Tode der Enttäuschungen hat er zu verkraften, wie oft sterben Hoffnungen, die er sich gemacht hat. Wie viele Hiebe muss er einstecken, wie viele Tage in Gefängnislöchern durchstehen, wie viele Misshandlungen über sich ergehen lassen.

Auch die Zeilen der heutigen Lesung, die Paulus an seine Lieblingsgemeinde in Philippi schreibt, sind in Todesnot aus dem Gefängnis geschrieben. Paulus fühlt sich dem Tod nahe, ja er hätte nichts dagegen, zu sterben. Sterben nennt er in dieser aussichtslosen Situation einen Gewinn. „Ich sehne mich danach aufzubrechen und bei Christus zu sein – um wie viel besser wäre das!“, schreibt er. Was ihn einzig hält sind die Philipper: „Aber euretwegen ist es notwendiger, dass ich am Leben bleibe.“
Auch für Paulus gilt, wie Dorothee Sölle formuliert hat: „ Man kann nur glauben, wenn man schon einmal gestorben ist.“

Liebe Leser!
Einer Illusion begegne ich bei gläubigen Menschen immer wieder, der Illusion, Glaube verschont, muss vor Schlimmen im Leben bewahren. Und dann, wenn Leid, wenn Probleme Menschen fast erdrücken, wie häufig die Klage und Frage: „Ich hab´s doch so gut gemeint, bin jeden Sonntag in die Kirche gegangen, hab´ niemanden etwas Böses getan. Womit habe ich nun das verdient!“
Aber ich begegne auch dieser Erfahrung, dass Menschen auch heute Ähnliches erleben, wie damals Paulus oder Dorothee Sölle. Dass ihnen oft Kräfte zuwachsen, wo keine Reserven mehr da sind, dass sie oft wieder aufstehen, wo sie am Boden liegen, dass es wieder einen neuen Anfang gibt, wo alles am Ende zu sein scheint. Die Erfahrung, durchgekommen zu sein, wo nur gefühlt wurde, das halte ich nicht aus. Wie viele Mensche machen auch heute die Erfahrung, dass Glaube nicht vor allem Schweren bewahrt, aber in allem Schweren trägt!
Wie viele glaubenserfahrene Menschen stimmen einer Dorothee Sölle zu: „Später habe ich gemerkt, dass alle, die glauben, ein wenig hinken, wie Jakob, nachdem er mit dem Engel gekämpft hat. Sie sind schon einmal gestorben. Man kann es niemanden wünschen, aber auch nicht versuchen, es ihm durch Belehrung zu ersparen. Die Erfahrung des Glaubens ist ebenso wenig ersetzbar wie die Erfahrung der Liebe. Einzig Erfahrung ist evident.“


Pfarrer Stefan Mai

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