„...der ausweichende Blick der sogenannten Nächstenliebenden!“

Predigt zum 23. Sonntag im Jahreskreis (Röm 13,8-10)

In seinem Buch „Gestern unterwegs“ fragt Peter Handke: „Und wer sagte das?“ Und dann folgt dieses Zitat: „Allein in der Geschlechterliebe kann einer dem andern in die Augen schauen. Dagegen der ausweichende Blick der sogenannten Nächstenliebenden!“
Auch ich weiß nicht, wer diesen Satz geschrieben hat. Ich weiß nur, dass er mich getroffen hat, weil ich spüre: Dieser Satz ist für uns Christen eine echte Gewissenserforschung.
„Allein in der Geschlechterliebe kann einer dem andern in die Augen schauen. Dagegen der ausweichende Blick der sogenannten Nächstenliebenden!“ Seid vorsichtig mit eurem Gerede von der Nächstenliebe, schreibt uns Peter Handke mit diesem Ausspruch ins Stammbuch. Echte Liebe umschreibt Peter Handke mit „den andern in die Augen schauen können“, Freude daran haben, den anderen zu sehen, sich nicht satt sehen an ihm, sich zum anderen hingezogen fühlen und auch ein Stück in das Innere des anderen sehen zu können.
„Dagegen der ausweichende Blick der sogenannten Nächsten-liebenden!“, stellt er fest. Oft genug wird nur so getan als ob, aus einer Art christlichen Verpflichtung heraus. Schließlich gehört das Gebot der Nächstenliebe zu den Grundpfeilern unseres Glaubens. „Vorsicht!“, mahnt Handke, „bitte keine Nächstenliebe aus Großmut oder aus Mitleid heraus!“

Auch Paulus betont wie die Evangelien das Gebot der Nächstenliebe als die große Zusammenfassung und Erfüllung der Gebote. Und es scheint, Paulus spürt ebenfalls wie Handke: Dieses Gebot innerlich wirklich ehrlich, ohne Liebe vorzuheucheln, auszufüllen, ist nicht leicht. Deshalb schließt er seine Reflexion über das Gebot der Nächstenliebe mit dem nüchternen Satz ab, der nicht in der Gefahr steht, idealistisch zu verklären: „Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses.“
Liebe Zuhörer! Manchmal sind kritische Anfragen an unsere großen selbstverständlichen Sätze gut. So auch diese Anfrage von Peter Handke: „Und wer sagte das?: Allein in der Geschlechterliebe kann einer dem andern in die Augen schauen. Dagegen der ausweichende Blick der sogenannten Nächstenliebenden!“
Nach ihm ist und bleibt der Test beim Reden von der Nächstenliebe: „Kannst du dem Nächsten wirklich und gern in die Augen schauen?“


Pfarrer Stefan Mai

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