Sind Priester heilsnotwendig?

Predigt zum 22. Sonntag im Jahreskreis (Röm 12,1-2)

Jeden Morgen und Abend wurde im Tempel von Jerusalem ein Opfer dargebracht. Die heilige Opferhandlung wurde am Brandopferaltar vollzogen. Und dieser stand vor dem Allerheiligsten im Tempelvorhof der Priester. Von überall kamen die Menschen her, um diese heilige Handlung mitzuerleben. Aber nur die Männer hatten vom Priestervorhof oder vom Vorhof der Männer Sicht auf das Geschehen. Schon den Frauen, denen als Platz der Vorhof der Frauen zugewiesen war, war die Sicht verwehrt. Sie konnten nur aus der Entfernung die heiligen Gesänge bei der Opferhandlung hören. Und die fremden Besucher des Tempels, die nicht zum Volk Israel gehörten, standen noch weiter im Vorhof der Heiden abseits.
Jeden Morgen und Abend wurde zu einer geheiligten Zeit in einem von der Welt abgeschirmten, geheiligten Bezirk die heilige Opferhandlung vollzogen. Das Darbringen des Morgen- und Abendopfers war allein den Priestern vorbehalten. Sie waren das ausführende Organ. Ohne Priester kein Opfer. Eigene Dienstpläne teilten die Priester im Schichtdienst ein. Es war genauestens geregelt, welche Priester die Opfertiere schlachteten, welche die Fleischstücke zum Brandopferaltar brachten, welche das Feuer entzündeten.

Ich habe Ihnen heute einmal das jüdische Opferwesen am Tempel von Jerusalem ein wenig näher geschildert. Denn ohne diesen realen Hintergrund können wir die Sinnspitze, ja die revolutionäre Botschaft der heutigen Lesung nicht verstehen. Paulus schreibt: Angesichts des Erbarmen Gottes ermahne ich euch, euch selbst als lebendiges und heiliges Opfer darzubringen, das Gott gefällt. Das ist für euch der wahre und angemessene Gottesdienst!
Gleicht euch nicht dieser Welt an, sondern wandelt und erneuert euer Denken damit ihr prüfen und erkennen könnt, was der Wille Gottes ist: was ihm gefällt, was gut und vollkommen ist.


Da bringt nicht nur ein auserwählter Stand das Opfer dar, sondern jederman und jede Frau wird dazu aufgerufen.
Das Opfer, das dargebracht wird, sind nicht mehr Stiere, Böcke und Lämmer. Das Opfer heißt jetzt Lebenseinsatz.
Der Ort des Opfers ist nicht mehr ein geheiligter, von der Welt abgesonderter Bezirk, der Schauplatz des Opfers ist jetzt die Welt und der Alltag der Menschen.
Es zählt nicht mehr, wie viele Stiere dargebracht werden, es zählt nicht wie makellos die Opfertiere sind, es zählt jetzt allein, ob Christen danach fragen, wie Gott sich eine menschliche Welt vorstellt und wie die Menschen miteinander umgehen. Das ist nach Paulus der echte Gottesdienst.

Liebe Leser! Angesichts sinkender Priesterzahlen gewinnen diese Paulusworte für mich eine ungeheuere Brisanz.
Sollte es wirklich einmal soweit kommen, dass der Priesterberuf keinen mehr vom Hocker reißt, sollte es wirklich einmal eintreten, dass es tatsächlich keine Priester mehr gibt. Paulus würde provozierend sagen:
Christentum stirbt damit noch lange nicht aus.
Denn nach Paulus ereignet sich Christentum nicht in erster Linie in geheiligten Räumen, sondern mitten im Alltag der Menschen. Paulus ist überzeugt: Solange sich Christen an Jesus orientieren und keine Angst haben, wegen ihres Verhaltens in unserer Gesellschaft aufzufallen, solange Christen ihren Lebenseinsatz für andere als Gottesdienst verstehen, solange wird das Christentum in dieser Welt von sich reden machen.


Pfarrer Stefan Mai

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