Vorsicht Unkraut!

Predigt zum 16. Sonntag im Jahreskreis (Mt 13,24-30)

„Sollen wir gehen und es ausreißen?“, fragen die Knechte ihren Herrn. „Nein!“, bekommen sie zu hören, „sonst reißt ihr zusammen mit dem Unkraut auch den Weizen aus. Lasst beides wachsen bis zur Ernte!“
Die meisten Zuhörer Jesu waren Kleinbauern. Die wussten: Das stimmt gar nicht. Es gibt Unkraut, das so ähnlich aussieht wie Weizen. Aber mit einem Kennerblick kann man beides sehr wohl unterscheiden. Und kein Bauer käme auf Idee, bei der Ernte sich zuerst mit dem Unkraut zu beschäftigen, es zu bündeln und zu verbrennen – und erst in einem zweiten Schritt den Weizen zu ernten.
Den Kleinbauern war völlig klar. Dieser Jesus will provozieren. Er will keine neuen Bauernweisheiten von sich geben. Er spricht auch eigentlich gar nicht über Unkraut und Weizen, sondern im Bild darüber, wie wir mit Menschen umgehen.
Wie schön heißt es bei uns im Fränkischen. „Es gibt Sottene und Sottene!“. Solche und Solche. Es gibt solche, mit denen du es kannst. Und es gibt die anderen, die du am liebsten nicht sehen würdest. Solche, die etwas taugen. Und solche, die zu nichts zu gebrauchen sind. Solche, die’s gut mit dir meinen. Und solche, die dir was ans Zeug flicken wollen.
Solches Schwarz-Weiß-Denken, solche Einteilung in Gut und Böse gibt Sicherheit. Und entlastet: Du brauchst dir nicht ständig das Hirn zu zermartern: Warum klappt das mit dem einfach nicht? Hätte es anders ausgehen können, wenn du dich anders verhalten hättest? Nein, wenn du weißt: Der oder die gehört in die Kategorie „Unkraut“, dann gehst du ihm einfach aus dem Weg. Die Wege sind getrennt. Der lässt mir meine Ruhe. Ich lasse ihm seine Ruhe. Und jeder meint, er ist auf der besseren Seite, der Seite des Weizens.
Genau an der Stelle setzt das Jesusgleichnis an: Wie kannst du dir es anmaßen, einzuteilen in Weizen und Unkraut? Wie kannst du dir es anmaßen zu behaupten: Du bist der Weizen, die anderen sind das Unkraut? Als tüchtiger Bauer hast du den Blick dafür. Aber für die Menschen hat den alleinigen Durchblick Gott allein.
Und dir bleibt nur die Vorsicht. Wenn andere wieder sagen: Mit dem musst du vorsichtig sein. Das ist ein verdrehter Kerl! Vorsicht, sagt Jesus. Weißt du’s wirklich so genau? Und wenn du denkst: Dem gehören einmal ordentlich ein paar drübergezogen. Vorsicht, sagt Jesus. Das ist nicht deine Sache!
Und wenn du denkst: Wie gut, dass ich besser bin als anderen. Vorsicht, sagt Jesus. Bist du dir da so sicher?
Wenn es um Festschreiben von Rollen geht, ist Jesus ein totaler Verunsicherer. Wenn es um Schlechtmacherei der anderen geht, dann kämpft Jesus um jede Chance eines anderen Blickwinkels.
Liebe Leser,
ich freue mich, dass für den diesjährigen Jugendliteraturpreis ein Roman nominiert ist, in dem es genau darum geht: das Schubladendenken zu hinterfragen. Er trägt den Titel „Running Man“. Es geht um einen jungen Mann, der mit seiner Schwester zusammen ganz zurückgezogen lebt. Man munkelt über ihn: Mit dem stimmt was nicht! Üble Gerüchte kursieren. Er war Lehrer und wurde plötzlich aus der Schule entlassen. Lass bloß dein Kind mit dem nicht in Berührung kommen. Und der Roman erzählt davon, wie ein 14-Jähriger doch mit ihm in Kontakt tritt und sich das dunkle Geheimnis ganz anders entpuppt.
Für mich ist es schon manchmal faszinierend, wie der Stoff der alten Jesusgleichnisse in moderner Form weitererzählt wird. Und wie moderne Autoren, vielleicht ohne es zu wissen, zentrale Anliegen Jesu weiterverkünden: Vorsicht beim Einteilen in Unkraut und Weizen!


Pfarrer Stefan Mai

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