Mit allen Sinnen

Predigt zum 15. Sonntag im Jahreskreis (Mt 13,1–23)

Einleitung

Die drei "asiatischen Affen" (nichts hören, nichts sehen, nichts sprechen) sind nicht das Ideal christlicher Lebensgestaltung.

Predigt

Da kann dir Hören und sehen vergehen, möchte man am liebsten sagen, wenn die Sprüche vom Hören und Sehen im heutigen Evangelium verlesen werden. Da schwirrt es einem im Kopf, wenn man hört: „Hören sollt ihr, hören, aber nicht verstehen, sehen sollt ihr, sehen, aber nicht erkennen.“ Den einen wird prophezeit, dass sie hören und doch nicht hören. Die anderen werden seliggepriesen für das, was sie hören. Und was soll das Hören und Sehen wieder mit dem Sämannsgleichnis zu tun haben?
Fangen wir an einer ganz anderen Stelle an. Wir wissen: Fromme Muslime verrichten fünfmal am Tag ihr Gebet. Und fünfmal bereiten sie sich darauf vor. Und zwar mit Waschungen. Sie nehmen fließendes Wasser und reiben sich damit symbolisch die Augen aus, waschen sich die Ohren, den Mund, die Hände und die Füße. Erst dann betreten sie barfuß die Moschee, hören die Lesungen, die der Vorbeter vorträgt, und sprechen ihre Gebete. Ganz klar, die Waschung vor dem Gottesdienst dient nicht der hygienischen Säuberung. Vielmehr sollen symbolisch die Sinne aktiviert werden.
Wenn der Muslim seine Ohren auswäscht, so will er sich bei der Handlung selbst sagen: Öffne deine Ohren! Lass in dich hinein, was du hörst. Und wenn der Muslim seine Augen auswäscht, dann weist er sich selbst darauf hin: Öffne jetzt deine Augen für die Schönheit der Moschee, für die kunstvollen Schriftzüge des Koran! Und wenn der Muslim seinen Mund wäscht, dann sagt er sich: Nimm ernst, was beim Gebet über deine Lippen kommt!
Hinter diesem regelmäßigen Ritual steckt eine große Weisheit. Körperliche Handlungen, die rituell wiederholt werden, prägen auf Dauer die Ethik, das Verhalten eines Menschen. Sie tätowieren sich tief ins Gedächtnis ein und haben Einfluss auf das Alltagsverhalten.
Dein Ohr, das für die Koranverse gewaschen wird, soll auch im Alltag das Richtige hören: hinter einer Beleidigung die ernstgemeinte Ermahnung, hinter der Aufforderung einen gutgemeinten Ratschlag, unter den vielen Stimmen, die auf dich eindringen, diejenige, die für dich wichtig ist.
Dein Mund, der für die Gebete gewaschen wird, soll auch im Alltag auf die Worte achten, die er spricht: Er soll nicht lügen, nicht den anderen heruntersetzen, nicht gehässig sein; seine Worte sollen aufbauen, ermuntern, weiterführen und Menschen gut tun.
Das Auge, das für die Schönheit der Moschee und des Korans ausgewaschen wird, soll auch im Alltag nicht nur auf das Negative fixiert sein, die Fehler der anderen sehen, das, was nicht in Ordnung ist, sondern aufmerksam sein für das Schöne, den guten Willen, die Fortschritte eines Menschen
Auf diesem Hintergrund verstehe ich das sonderbare Hören und Nichthören im biblischen Text tiefer: Jesus preist die Ohren selig, die seine Worte nicht nur hören und es gut sein lassen, sondern die Frucht bringen, die seine Worte im Alltag umsetzen. Bei denen ist der Same auf guten Boden gefallen.
Bis heute hat die Kirche dafür noch ein Gespür: In der Taufe gibt es den Effata-Ritus. Die Ohren des Täuflings werden berührt und dabei das Gebet gesprochen: Der Herr lasse dich heranwachsen und wie er mit dem Ruf „Effata“ dem Taubstummen die Ohren und den Mund geöffnet hat, öffne er auch dir Ohren und Mund, dass du sein Wort vernimmst und den Glauben bekennst zum Heil der Menschen und zum Lobe Gottes.
Das sollten wir uns manchmal bewusst machen: Auf guten Boden ist der Samen bei dem gesät, der das Wort hört und es auch versteht – und Frucht bringt und es tut.

Gebet bei der Taufe

Der Herr lasse dich heranwachsen und reifen;
und wie er mit dem Ruf "Effata" dem Taubstummen Ohren und Mund geöffnet hat,
so öffne dir Jesus Christus alle deine Sinne,
damit du sein Wort und deine Mitmenschen hörst,
damit du die Wunder seiner Schöpfung siehst und mit deinem Herzen schaust,
damit du den Duft der Erkenntnis Christi riechst und seine heilende Nahrung schmeckst,
damit dich die Weisheit Christi erfülle und du seinen Glauben mit deinem Mund bekennst,
damit dich Liebe berührt und du mit deinem Körper Liebe erfährst und lieben lernst
und so alles Schöne unserer Welt aufnehmen kannst zum Heil der Menschen und zum Lobe Gottes


Pfarrer Stefan Mai

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