Rätselhafte Worte

Predigt zum 12. Sonntag im Jahreskreis (Mt 10,26-33)

„Was ich euch im Dunkeln sage, davon redet am hellen Tag. Und was man euch ins Ohr flüstert, das verkündet von den Dächern!“
Rätselhafte Worte, die Jesus spricht. Diese Worte verlieren aber ihre Rätselhaftigkeit, wenn man weiß, in welcher Situation sie die Christen des Matthäusevangeliums hören.
Ende des ersten Jahrhunderts wird es ernst, ja gefährlich, sich als Christ zu outen und zu bekennen. Sogar in der eigenen Familie kann man sich nicht einmal mehr sicher sein. Spitzel versuchen den bekennenden Christen auf die Schliche zu kommen und ihnen etwas ans Bein zu flicken. Die Angst geht um. Man zieht sich aus der Öffentlichkeit zurück. Christ inkognito, ohne dass die anderen von meiner Einstellung etwas merken. Man trifft sich geheim, im „Dunkeln“, unter sich und flüstert leise über die Sache des Glaubens. Hier, wo man sich sicher fühlt, hören die jungen Christen die Worte Jesu und feiern miteinander den Gottesdienst.

Und da zückt der Evangelist Matthäus, ein begabter Schriftgelehrter, aus seiner Schatzkiste Worte Jesu, die ins Gewissen reden und zugleich Mut machen wollen: „Was ich euch im Dunkeln sage, davon redet am hellen Tag. Und was man euch ins Ohr flüstert, das verkündet von den Dächern! ... Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, die Seele aber nicht töten können!“ Das heißt: „Versteckt euch nicht. Pflegt den Glauben nicht in privater Frömmigkeit! Er muss an die große Glocke gehängt werden! Sagt, gebt ihn weiter! Und traut auch Gott noch etwas zu!““

In unseren Breiten leben wir nicht mehr in der gefährlichen Situation der jungen Christen zur Zeit des Matthäus. Wer muss schon um sein Leben fürchten, wenn er sich entschieden für die Sache des Christentums einsetzt? Aber trotzdem haben die Worte des heutigen Evangeliums für mich höchste Aktualität. Denn wir stehen in der großen Gefahr, unseren Glauben in einer privaten Wohlfühlecke zu pflegen. Nichts dagegen, wenn man sich vom Glauben ein Stück Lebenshilfe erwartet, ein Wort für mich, einen Trost für mich, einen Ort, an dem ich sonntags meine Seele baumeln lassen kann. Nichts dagegen wenn man ihn in Meditation und spirituellen Büchern als Quelle der Selbsterkenntnis erfahren möchte. Aber wenn er nicht mehr zum Bekenntnis in unserer Gesellschaft wird, dann verliert er seine Kraft.

Vor einem halben Jahr saß ich bei einer Feier neben einem Mann aus einer Freikirche. Der meinte: „Ich verstehe euch Katholiken nicht. Mir ist es eine Freude und ein Anliegen, über den Glauben am Arbeitsplatz zu reden und ihn unter die Leute zu bringen. Aber wenn ich mit meinen Arbeitskollegen, von denen noch viele am Sonntag in die Kirche gehen, über den Glauben ins Gespräch kommen will, dann wehren sie ab und ich bekomme nur von ihnen zu hören: Lass uns damit in Ruh!“

„Was ich euch im Dunkeln sage, davon redet am hellen Tag. Und was man euch ins Ohr flüstert, das verkündet von den Dächern!“
Charles de Foucault, der Gründer der kleinen Brüder, schrieb einmal in einem Brief: „Wir sollen mit unserem ganzen Sein die frohe Botschaft verkünden, sie von den Dächern rufen. Unser Dasein soll Jesus atmen, unsere Taten sollen vom Evangelium sprechen. Lebendige Verkündigung sein, Abbild, Wohlgeruch, Stimme Jesu, ihn zeigen, sein Bild zum Leuchten bringen.“
Das tut ein scheidender Landgerichtspräsident bei seiner Verabschiedung, wenn er in einer illustren Runde vor führenden Vertretern unserer Gesellschaft zu deren Verwunderung seine Dankesrede mit einem Gebet beschließt. Das tut eine Mutter, die bewusst vor einem schönen großen Essen in der Familie am Tisch an den Anfang des Abends ein paar religiöse Gedanken stellt. Das tut auch der Bub, der seinem Vater, der dann ein wenig über die fromme Mutter witzelt, in die Parade fährt und meint: “Papa, das ist eine ernste Angelegenheit. Darüber macht man keine Witze!“
„Was ich euch im Dunkeln sage, davon redet am hellen Tag. Und was man euch ins Ohr flüstert, das verkündet von den Dächern!“


Pfarrer Stefan Mai

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