Der hat einen Webfehler

Predigt zum Pfingstmontag

Einleitung

Wenn ich an einem Porzellangeschäft vorbeigehe, sehe ich: Rosenthal Sonderangebot 2. Wahl – mit kleinen Fehlern. Natürlich gleich auf die Hälfte heruntergesetzt. Einfache Leute greifen da gerne hin. Aber wer etwas auf sich hält, nimmt nur erstklassige Ware. Ein Festtagsgeschirr mit kleinen Macken, das könnte die Feiertagslaune verderben.
Ist das nicht typisch für unsere Gesellschaft: Wer eine kleine Macke hat, wird er heruntergesetzt. Aber verdient er es wirklich.

Predigt

Es wird erzählt: Wenn die Navajos einen Teppich herstellen, dann weben sie bewusst in einer Ecke einen kleinen Webfehler ein. Ausgerechnet diesen Webfehler betrachten sie als die Stelle, an der der Geist in den Teppich hinein- und aus ihm herausgeht. Ausgerechnet dort, wo das exakte Muster durchbrochen wird, bekommt der Geist eine Chance.
„Der hat einen Webfehler!“ So sagen in Gegenden, die mit der Webkunst vertraut sind, die Leute von einem Menschen, den man für verrückt hält. „Die haben einen Webfehler! Die sind nicht mehr ganz bei Verstand! Die sind verrückt oder besoffen!“ So urteilen die Wallfahrer, die zum Pfingstfest nach Jerusalem gekommen sind, als der Geist Jesu einen neuen Zugang zu den Aposteln fand und diese voll Feuer und Flamme das Evangelium predigen.
Die Geschichte der Kirche, so könnte man salopp formulieren, beginnt mit einem Webfehler. Am Anfang steht nicht eine konstituierende Mitgliederversammlung, bei der sich die Jünger unter der Leitung von Petrus auf eine für alle Völker und alle Zeit unverändert gültige Verfassung geeinigt hätten. Am Anfang der Kirche steht nicht das exakte Muster, Grundsätze, die man vor jeder Veränderung schützen muss. Nein, am Anfang der Kirche steht ein Webfehler.
Und im Laufe der Kirchengeschichte waren es immer wieder Menschen mit kleinen Webfehlern, die der Kirche zu einem neuen Pfingsten verholfen haben.
Man braucht nur an Franz von Assisi, den verrückten Aussteiger zu denken. „Idiot“ und „Spinner“ haben ihm die Kinder auf der Straße nachgerufen. Und er selbst hat einmal geäußert: „Der Herr sagte mir, er wolle, dass ich ein frischgebackener Narr in der Welt sei.“
Man braucht nur an einen Don Bosco zu erinnern, der bis ins hohe Altar wie ein Verrückter mit seinen verrohten Jugendlichen in Turin auf dem Sportplatz die Kräfte gemessen hat. Als er einen neuen Orden gründete, der sich um die verwahrlosten Jugendlichen kümmern sollte, und als man ihn danach fragte: „Welches Ordensgewand werden sie ihren Mitbrüdern geben?“, kam als Antwort zurück: „Ich will, dass die Glieder meines Ordens wie die Mauergesellen hemdsärmelig herumlaufen.“ Darüber war man sich einig: Der hat einen Webfehler! Der spinnt! Und schon wollte ihn ein Beauftragter des Ordinariats in eine Nervenheilanstalt bringen lassen. Zwei Priester bekamen den Auftrag, alles Erforderliche zu veranlassen. Sie suchten Don Bosco auf, unterhielten sich eine Weile mit ihm und schlugen ihm endlich vor: „Du bist übermüdet und brauchst dringend eine Ausspannung! Wir laden dich ein mitzukommen. Unser Wagen wartet unten. An der Kutsche, die in Wahrheit ein Irrenhauswagen war, wollte man Don Bosco zuerst einsteigen lassen. Doch dieser wehrte ab: „Aber nein, das wäre ja unhöflich, vor euch einzusteigen. Bitte geht ihr voran!“ Kaum saßen die beiden Priester in dem geschlossenen Wagen, als Don Bosco den Schlag zuwarf und dem Kutscher zurief: „Fahr schnell, man erwartet die beiden.“ Der Irrenhauswagen, dessen Türen und Fenster von innen nicht geöffnet werden konnten, lief bald durch die weit aufstehenden Tore der Irrenanstalt, die sich hinter ihnen sofort schlossen. Die Wärter umstellten den Wagen, um den irre gewordenen Priester in Empfang zu nehmen. Und wie staunten sie, als sie beim Öffnen des Wagens gleich zwei Schwarzröcke vorfanden, von denen jeder behauptete, er sei nicht der Kranke. Alles Reden half nichts – und die beiden wurden in die Beruhigungszelle gesteckt, bis der Fall geklärt war.
Liebe Leser, manchmal denke ich mir: Diese Webfehlertheologie haben wir verlernt. Und deswegen ist unsere Kirche oft so geistlos. Akzeptiert ist nur das Ordentliche, das Brave, das Normale – so wie es schon immer war.
Verrückte bringen durcheinander, aber sie bringen auch weiter. Manchmal frage ich mich: Traue ich mich überhaupt, eine verrückte Idee auszusprechen? Wo verhalte ich mich noch anders, als von mir erwartet wird? Und wo sind die Gemeinden, die ganz verrückten Ideen eine Chance geben – und nicht sagen: Das ist doch verrückt. Das haben wir noch nie so gemacht!
Die Navajos würden sagen: So hat der hl. Geist bei euch keine Chance. Denn er schlüpft nur über Webfehler ins exakte Muster.
Und umgekehrt: Würde jemand zu Ihnen oder von einer Gemeinde sagen: Ihr habt doch einen Webfehler! Eigentlich sollten Sie sich freuen – und sagen: Gott sei Dank!

(Nach einer Idee von Wolfgang Raible in „Anzeiger für die Seelsorge“ Nr. 5 2008, S.28)


Pfarrer Stefan Mai

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