„Herr, lass mich wieder sehen!“

Predigt zur Bittprozession 2008 - Thema: Offenen Auges durchs Leben gehen

Wir leben in einem visuell hoch aufgeladenen Zeitalter. Was da dem Auge geboten wird: Bilder über Bilder. Überall die Einladung: Schau her - ich hab dir was zu bieten. Schau da, schau dort!
Täglich für uns tausende von Seh-Anreizen über Reklame-Wänden, Schaufenster, Werbebroschüren und am Abend zig-Tausende wechselnder Bildfolgen auf dem Fernseher: Keine Pädagogik kommt heutzutage mehr ohne dem Prinzip „Anschaulichkeit“ aus. Von wegen - spannendes Zuhören bei einer schönen Geschichte. Es muss etwas zum Sehen geben, sonst ist es mit der Aufmerksamkeit bei den Kleinen schnell vorbei.

Ja, man sollte meinen, da sollte ein Seh-Sinn durch ständige Übung geschult und geschärft sein. Aber wir wissen, durch ständige Reizüberflutung schleicht sich eine Oberflächlichkeit in der Wahrnehmung ein. Allein der Name Fern-sehen ist schon verräterisch. Aus der Distanz, aus der Ferne wird gesehen, nicht direkt vis-a-vis. Irgendwie ist meistens ein Bildschirm - oder eine Mattscheibe dazwischen. Und die ständige Reizüberflutung birgt die Gefahr in sich, dass unsere Augen nur noch flüchtig glotzen, nicht mehr schauen, nicht mehr bewundern und schon gar nicht mehr staunen.

Auf diesem Hintergrund gewinnt für mich das Thema der heutigen Bittprozession höchste Brisanz: „Offenen Auges durchs Leben gehen.“
Trotz visueller Bestversorgung und Fülle von Anschauungsmaterial gleichen wir Menschen manchmal dem Blinden an der Straße von Jericho, der auf die Frage Jesu: „Was soll ich dir tun?“, die Bitte äußert: „Herr, lass mich wieder sehen!“ Diese Bitte des blinden Bettlers kann sich jeder von uns zu eigen machen. Und jeder von uns kann diesem Wort eine eigene, persönliche Deutung geben.

• „Herr, ich möchte wieder sehen können.“
Die vielen Farbnuancen der Farbe grün, die die Natur zur Zeit wieder bereit hält. Das Wachstum auf den Feldern mit Spannung beobachten. Die Harmonie von Farben, wie sie die Natur uns vor Augen stellt. Ich möchte wieder sehen ganz in der Nähe - nicht nur fern. Ich möchte wieder mit Geduld und tiefem Hintergrund ein Bild betrachten und seine Botschaft entschlüsseln. Ich möchte wieder echt schauen, staunen und bewundern.

• „Herr, ich möchte wieder sehen können.“
Wir kennen die Redensart: Ich kann keinen Menschen mehr sehen. So weit kann unsere Blindheit gehen. Manchmal merken wir nicht mehr, wie eng unser Blickfeld geworden ist. Wie wir nur um uns kreisen.
Menschen, mit denen wir in der Familie, im Freundeskreis, im Beruf jahrelang zusammen sind, Nachbarn, mit denen wir Jahre lang Wand an Wand wohnen - wir haben sie vielleicht noch nie wirklich gesehen, wahr-genommen. Ihre Gesichter und Schicksale sind uns gleichgültig geblieben.

• „Herr, ich möcht wieder sehen können.“
Lass mich noch den Durchblick bewahren, wenn sich die Stimmung eintrübt. Wenn ich nur noch schwarz sehe. lass mich sehen, dass es einen Ausweg, eine Hoffnung für mich gibt, dass es weitergeht, wenn es auch anders ist als ich es mir oft vorstelle.

Der hl. Augustinus schrieb einmal: „Unsere Aufgabe in diesem Leben ist nichts anderes, als das Auge des Herzens zu heilen, mit dem Gott gesehen wird.“ - Ich möchte wieder sehen können. Die Wunder deiner Schöpfung, die Menschen, gangbare Wege und dich, o Gott!


Pfarrer Stefan Mai

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