Emmausjüngerinnen heute

Predigt zum Ostermontag

Die Emmausgeschichte ist nicht nur eine Geschichte aus ferner Zeit. Die Emmausjünger können auch heute unterwegs sein. Heute gehen sie nicht mehr von Jerusalem nach Emmaus. Sie sitzen irgendwo am Kaffeetisch – oder unterhalten sich auf dem Weg zur Kirche. Belauschen wir sie einmal:

L1: „Mein Gott, wo soll’s mit unserer Kirche noch hingehen? Die stand doch mal hoch im Kurs. Es hat gezählt, was sie gesagt hat. Sie war beliebt.
L2: Und wir hatten gehofft, dass es nach dem Konzil aufwärts geht. Und wie viele haben damals mitgemacht, haben Gruppen und Kreise gegründet.
L1: Wir hatten auch gehofft, dass sich die Kirche für die Welt öffnet und einen wichtigen Beitrag für unsere Gesellschaft leistet.
L2: Und sie hat auch viel geleistet: Die vielen Beratungsstellen, die Sozialstationen, die vielen Kindergärten. Was hat sie da alles an Kraft und Geld investiert.
L1: Und was ist jetzt? Irgendwie sind wir auf dem Abstellgleis. Wer will noch etwas von der Kirche wissen? Schau doch in die leeren Bänke! Alles Omas und Opas in unserem Alter. Kaum ein Pfarrer unter 50.
L2: Und das Schlimmste: Sogar unsere eigenen Kinder sagen heute: Lasst uns bloß mit eurer Kirche in Ruh!
L1: Und wir haben sie doch überall mitgenommen. Und keinen Druck ausgeübt. Die Kirche hat einfach zu unserem Leben gehört.
L2: Alles umsonst.

So oder so ähnlich könnten sich die Klagen der Emmausjünger von heute anhören. Die Klagen derer, die sich in der Kirche daheim fühlen. Die voller Begeisterung dabei waren – und die meinen, dass jetzt alles den Bach runterläuft.
Und ich sehe, wie sich Jesus zu ihnen gesellt. Er würde wie damals sagen: Was sind denn das für Dinge, über die ihr auf dem Weg miteinander redet? Und er würde sich geduldig die Klagen anhören und nach einer Weile vielleicht sagen:
Musste denn nicht all das geschehen? Ist es denn der Sinn der Kirche, dass sie zu allen Zeiten mächtig ist, dass sie den Ton angibt und groß rauskommt? Glaubt ihr denn nicht, dass diese große Krise, von der ihr mir erzählt habt, eine große Chance für die Kirche sein kann? Die Kirche wird zwar kleiner, sie hat weniger Einfluss, aber vielleicht wird sie dem ähnlicher, wie sich Jesus Kirche erträumt hat: wo sich Menschen gegenseitig unterstützten, miteinander nach gangbaren Wegen suchen, wo Menschen sensibel dafür sind, was andere brauchen, wo bewusst Beziehungsnetze geknüpft werden, in denen die aufgefangen werden, die in der Gesellschaft unten durchfallen.
Inzwischen hatten sie die Kirche erreicht. Sie hingen noch ihren Gedanken nach und plötzlich klangen die Worte: „Nehmt und esst, das ist mein Leib, der für euch hingegeben“ wird ganz anders. Sie schauten sich an und spürten: Brannte uns nicht das Herz auf dem Weg, als er mit uns redete?


Pfarrer Stefan Mai

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