Den anderen erst nach dem Tod richtig verstehen

Predigt zum Ostersonntag (Joh 20,1-2.11-18)

Schon in aller Frühe läuft Maria zum Grab und sucht Jesus. Ganz aufgeregt kommt sie zu Petrus zurück und meldet ihm: Man hat Jesus aus dem Grab weggenommen! Was wie eine historische Notiz klingt, kann viel hintergründiger verstanden werden. Maria ist eine der ganz nahen Vertrauten Jesu. Sein Tod bedeutet einen Bruch in ihrer Beziehung. Sie sucht ihn und kann ihn nicht finden. Sie fühlt sich beraubt.
So geht es vielen: Nach dem Tod eines geliebten Menschen haben sie das Gefühl: Mir wurde das Wichtigste im Leben weggenommen. Sie fühlen sich beraubt. Sie haben Sehnsucht nach der Nähe des Verstorbenen, möchten ihn spüren, aber der Tote kommt nicht zurück.
Das ist auch das Thema eines Filmes, der zur Zeit in den großen Kinos läuft: „Kirschblüten“ von Doris Dörrie.
Der Film erzählt von einem älteren Ehepaar aus dem Allgäu, Trudi und Rudi. Nur Trudi weiß, dass ihr Mann Krebs hat, im Endstadium. Der Arzt schlägt eine letzte gemeinsame Unternehmung vor, zum Beispiel eine Reise. Aber Rudi hasst Unternehmungen. Er liebt seine bayerische Gemütlichkeit daheim, er braucht seinen geregelten Alltag: am Morgen ins Büro, seine Frau hat die Brotzeitdose hergerichtet mit Apfel und Wurstbrot, am Abend stehen zuhause die Pantoffeln bereit.
Nur notgedrungen lässt er sich zu einer Reise überreden. Sie fahren zu ihren beiden Kindern nach Berlin. Doch die haben keine Zeit für sie. Und sie müssen feststellen: Unsere Kinder sind uns fremd geworden. So reisen sie für ein paar Tage an die Ostsee. Sie erleben schöne Stunden zu zweit, schlüpfen beim starken Seewind in eine Jacke und trösten sich damit, dass sie wenigstens einander haben.
Aber dann bricht ihre Welt zusammen: Am darauf folgenden Morgen wacht Trudi nicht mehr auf. Plötzlich ist Rudi allein. Zurück in Bayern ist es ohne Trudi still und einsam im Haus.
Und zum ersten Mal wird Rudi bewusst: Überall hängen Bilder aus Japan. Immer war es Trudis Traum gewesen, zur Kirschblütenzeit nach Japan zu reisen. Rudi stöbert in den Schubladen und findet ein Buch über den japanischen Butoh-Tanz. Da wird ihm bewusst: Meine Frau hatte ganz andere Lebenssehnsüchte. Sie hat alles für mich zurückgestellt. Ich habe sie wie in einem Gefängnis eingesperrt. Und es kommt ihm der Satz über die Lippen: „Wenn i g’wusst hätt, dass es so früh endet, wär i netter zu ihr g’wesen.“
Kurz entschlossen und für alle unbegreiflich: Der biedere Rudi reist nach Japan. Im Koffer die Kleider seiner Frau. Es ist gerade Kirschblütenzeit. Am frühen Morgen durchstreift Rudi die Kirschbaumalleen, unter dem Mantel hat er das Jäckchen und den Rock seiner Frau an. Er hört die Vögel singen und öffnet den Mantel. Er will seiner Trudi die japanischen Kirschblüten zeigen, die sie zu ihren Lebzeiten nicht gesehen hat. Und er lernt eine Butoh-Tänzerin kennen, die ihn in die Geheimnisse dieses Schattentanzes einführt. Mit ihr zusammen fährt er zum Fuji, dem berühmtesten Berg Japans, von dem seine Frau Bilder gesammelt hat und den sie unbedingt einmal sehen wollte. Tagelang ist der Fuji in Wolken. Und als eines frühen Morgens das ganze Bergpanorama von der Sonne beschienen wird, geht Rudi hinaus an den See und tanzt den Butoh-Tanz – in den Kleidern seiner Frau. Und er erinnert sich, wie sie in der Nacht vor ihrem Tod noch einmal mit ihm getanzt hat, er spürt sie hautnah – und bricht tot zusammen.
Liebe Leser, dieser Film von Doris Dörrie erzählt von einer gelungenen Trauerverarbeitung: wie ein Mensch erst nach dem Tod seiner Frau entdeckt, wer sie wirklich war, was sie gefühlt hat, wonach sie sich gesehnt hat, wovon sie geträumt hat.
Und dieser Film entschlüsselt für mich, was mit „Ostererfahrung“ gemeint ist: Die Jünger und die Freunde Jesu, zu denen Maria von Magdala gehört, fühlen sich durch den Tod Jesu beraubt. Aber indem sie nach seinem Tod beginnen, sich an seine Worte zu erinnern, zu tun, was er ihnen aufgetragen hat, ernst zu nehmen, wovon er geträumt hat, und in seinen Spuren zu gehen, erst da beginnen sie zu verstehen, wer er wirklich war.


Pfarrer Stefan Mai

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