Die große Überraschung

Osternacht 2008

Einleitung

Jahr für Jahr feiern wir Christen die Osternacht. Den meisten Kirchgängern sind die Texte, Riten, die Osterlieder vertraut, ja vielleicht zu selbstverstänlich. Der Grauschleier der Gewohnheit legt sich leicht über die Feier dieser Nacht. Wenig Aufregendes. Wenig Neues. Aber unter der Asche der Gewohnheit brennt in der Osterliturgie eine Glut.
Eigentlich möchten uns die Texte, Riten, Gebete und Lieder einen Ruck geben, mitten in der Gewohnheit einen neuen Anstoß. Das Osterlicht möchte eine neue Hoffnung in uns entzünden und das frische Taufwasser neue Kraft wecken. Die Osternachtsliturgie möchte uns als Mitfeiernde mit neuem Mut, gestärktem Glauben, neuer Zuversicht und festem Vertrauen auf das Wirken Gottes in unserer Welt und Leben entlassen. Lassen wir uns neu auf diese alte Feier mit bereitem Herzen und offenen Ohren ein.

Einführung zu den Lesungen

Die drei Lesungen, die wir nun im Schein der Oster¬kerze und des Osterlichts hören, erzählen alle von einem unerwarteten und unverhofften Eingreifen Gottes.
In der Erzählung von der Opferung Isaaks wird ein scheinbar unausweichlich dem Tod geweihtes Opfer in letzter Sekunde geschont und gerettet.
In der Erzählung vom Schilfmeer hören wir von einem unerwarteten Ausgang in einem ungleichen Duell.
Und in der Jesaja-Lesung von einer zerbrochenen Beziehung, für die man keinen Fünfer mehr gibt und für die man keine Chance mehr sieht.

Gen 22,1-2.9a.10-13.15-18 (2. Lesung)
Zwischengesang: GL 294 / 3+4


Gebet
Gott, du Freund des Lebens, du willst nicht, dass die Menschen einander in deinem Namen töten. Lass uns mit allen Völkern, die Abraham ihren Vater nennen, in Eintracht und Frieden zusammenleben. Darum bitten wir durch Christus, unser Herrn.

Ex 14,15 - 15,1 (3. Lesung)
Zwischengesang: GL 227,6-10


Gebet
Gott, deine uralten Wunder leuchten auch in un¬seren Tagen.
Was einst dein mächtiger Arm an einem Volk getan hat, das tust du an allen Völkern. Einst hast du Israel aus der Knechtschaft des Pharao befreit. Füh¬re auch heute Menschen aus der Bedrängnis zu neuer Freiheit. Darum bitten wir durch Christus, unseren Herrn.

Jes 54,5-14 (4. Lesung)
Zwischengesang: GL 268,1-3


Gebet
Gott, lass die Welt erfahren, was du von Ewigkeit her bestimmt hast:
Was alt ist, wird neu, was dunkel ist, wird licht, was tot war, steht auf zum Leben, und alles wird hell in dem, der der Ursprung von allem ist, in unserem Herrn Jesus Christus, der in dir lebt und herrscht in alle Ewigkeit.

Evangelium

Am nächsten Tag gingen die Hohenpriester und die Pharisäer gemeinsam zu Pilatus; es war der Tag nach dem Rüsttag. Sie sagten: Herr, es fiel uns ein, dass dieser Betrüger, als er noch lebte, behauptet hat: Ich werde nach drei Tagen auferstehen. Gib also den Befehl, dass das Grab bis zum dritten Tag sicher bewacht wird. Sonst könnten seine Jünger kommen, ihn stehlen und dem Volk sagen: Er ist von den Toten auferstanden. Und dieser letzte Betrug wäre noch schlimmer als alles zuvor. Pilatus antwortete ihnen: Ihr sollt eine Wache haben. Geht und sichert das Grab, so gut ihr könnt. Darauf gin¬gen sie, um das Grab zu sichern. Sie versiegelten den Eingang und ließen die Wache dort.
Nach dem Sabbat kamen in der Morgendämmerung des ersten Tages der Woche Maria aus Magdala und die andere Maria, um nach dem Grab zu sehen. Plötzlich entstand ein gewaltiges Erdbeben; denn ein Engel des Herrn kam vom Himmel herab, trat an das Grab, wälzte den Stein weg und setzte sich darauf. Seine Gestalt leuchtete wie ein Blitz, und sein Gewand war weiß wie Schnee. Die Wächter begannen vor Angst zu zittern und fielen wie tot zu Boden. Der Engel aber sagte zu den Frauen: Fürchtet euch nicht! Ich weiß, ihr sucht Jesus, den Gekreuzigten. Er ist nicht hier; denn er ist auferstanden, wie er gesagt hat. Kommt her und seht euch die Stelle an, wo er lag. Dann geht schnell zu seinen Jüngern und sagt ihnen: Er ist von den Toten auferstanden. Er geht euch voraus nach Galiläa; dort werdet ihr ihn sehen. Ich habe es euch gesagt. Sogleich verließen sie das Grab und eilten voll Furcht und großer Freude zu seinen Jüngern, um ihnen die Botschaft zu verkünden.

Predigt

Ich habe gelesen, dass ein englischer Historiker in einem weltgeschichtlichen Abriss einmal nachgerechnet hat, wie oft die Geschichte ganz anders verlaufen ist als es sich die Mächtigen und Herrschenden ausgedacht hatten. Er konnte viele Beispiele aufzählen, bei denen unvorhergesehene Ereignisse eintraten, die buchstäblich alles auf den Kopf stellten. Geschichte ist eben nicht nur von Kalkül, Macht und Revolutionen bestimmt.

In ihrer Regierungserklärung sprach Bundeskanzlerin Angela Merkel von Überraschungen in ihrem Leben. Der Fall der Mauer, der Zusammenbruch des kommunistischen Imperiums, wer hätte das für das Jahr 1989 vorhersehen können? Mutig und zugleich realistisch, wenn Politiker, die planen und vorausdenken müssen, die auf so viele Dinge und Prozesse ihren Einfluss ausüben möchten, die mit Macht und Geld so viel steuern, sich klar machen und damit rechnen: Mit einem Schlag kann die Geschichte einen anderen Verlauf nehmen als vorhergesehen. Von einer Minute auf die andere kann die große Überraschung da sein, selbst wenn Panzer und Heere mit aller Gewalt den status quo zementieren wollen.

Die Osternacht ist eine Nacht, die dieses Bewusstsein lebendig halten will. Welche Überraschung, dass das siegessichere und hoch aufgerüstete Pharaonenheer am Roten Meer ein paar dahergelaufener und jetzt vor Angst weglaufender Nomaden nicht Herr wird. Nach der großen Überraschung, dass die Peiniger nicht triumphieren dürfen und sang- und klanglos im Meer ersaufen, eine fast hämische Freude: „Rosse und Reiter warf er ins Meer“, schreien die Israeliten aus vollem Hals.

Ostern ist ein unvorhergesehenes Ereignis der Geschichte. Pilatus wollte gerne die Akte Jesus von Nazareth schließen. Schluss mit diesem galiläischen Querkopf! In den Augen vieler war ein politischer Aufrührer oder religiöser Spinner. Die Hammerschläge machten ihm den Garaus. Ja, die Akte Jesus war schon zugeschlagen und die Wachen vor dem Grab sollten den Fall wasserdicht machen.
Doch dann dieses „Plötzlich“ im heutigen Evangelium, das alles auf den Kopf stellt. „Plötzlich entstand ein gewaltiges Erdbeben; denn ein Engel des Herrn kam vom Himmel herab ... Die Wächter begannen vor Angst zu zittern und fielen wie tot zu Boden.“ Und von dem, den man plattgemacht hat, heißt es: „Ihr sucht Jesus, den Gekreuzigten, er ist nicht hier, denn er ist auferstanden!“ Die Siegessicherheit der Mächtigen wird durchkreuzt. Und der Fall Jesus in einer nie geahnten Dimension neu aufgerollt. „Der Irrtum des Pilatus“, so heißt ein nur vierzeiliges Gedicht von Reiner Kunze:

Er sah nur Jesus, sah
nicht jene,
die berichten würden
von Jahrtausend zu Jahrtausend


Ostern, das Fest der großen Überraschung: Es geht anders weiter als es die Gegner Jesu sich ausgedacht hatten. Es geht aber auch anders weiter für seine Freunde. Auch sie hatten die Akte Jesu schon geschlossen. Wollten mit diesem Jesus nichts mehr zu tun haben. Waren schon wieder zum Alltag übergegangen. Und da kommen diese Frauen daher und melden ihnen: Los, auf nach Galiläa, es geht von vorne los!
Ostern, das Fest der großen Überraschung. Im Volksmund sagen wir: Da zieht’s dir die Schuhe aus, da legt’s dich nieder. Wo in die abstrusen Sandkastenspiele der Mächtigen gehörig dreingepfuscht wird, wo es Menschen vor Überraschung die Sprache verschlägt und ihnen der Mund offen stehen bleibt, da behauptet die Bibel: Gott ist am Werk.

Wo die Macht, die nicht zum Wohl der Menschen agiert, gebrochen wird, da sieht die Bibel Gott am Werk. Und wo Unterdrückte, Looser, Menschen, die man ungerecht fertig gemacht hat, wider allem Erwarten auf die Beine kommen und neu aufschnaufen, da ist die Handschrift Gottes zu lesen.
„Rosse und Reiter warf er ins Meer!“ – sangen die Israeliten.

„Ihr sucht Jesus, den Gekreuzigten? Er ist nicht hier. Er ist auferstanden!“ – sagt der Engel.
Die Hallelujagesänge und das Glocken mitten in dieser Nacht sagen: Bei diesem Gott ist zu jeder Zeit mit einer Überraschung zu rechnen.

- Glocken läuten -



Fürbitten

Du Gott, des Lebens, Dir trauen wir zu, dass du Menschen und Geschichte verwandeln kannst. Dich bitten wir:

L1: Ostern, Aufstand des Lebens gegen den Tod
L2: Gott, wo das Räderwerk ungerechter Systeme und Regime Leid und Erschrecken über die Menschen bringt und scheinbar nicht zu stoppen ist - greife ein!
Wir bitten dich, erhöre uns.

L1: Ostern, Aufstand der Freude gegen das Leid
L2: Gott, wo Menschen am Boden sind und nicht mehr weiter wissen. Schenke neuen Lebensmut, neue Lebensfreude.
Wir bitten dich, erhöre uns.

L1: Ostern, das Fest der großen Überraschung
L2: Gott, wo Menschen keine Alternativen und Möglichkeiten mehr sehen. Schenke überraschende Einsichten und den nötigen Atem für neue Wege.
Wir bitten dich, erhöre uns.

L1: Ostern, das große Fest unseres Glaubens
L2: Gott, wo Menschen die Auferstehung deines Sohnes feiern und sie sich an ihre Taufe erinnern. Lass sie die Kraft und die Freude des Glaubens immer wieder neu erfahren.
Wir bitten dich, erhöre uns.

L1: Ostern, das Fest unserer großen Hoffnung
L2: Gott, wo Menschen um Tote trauern. Lass sie glauben dürfen, dass ihre Toten bei dir leben.
Wir bitten dich, erhöre uns.

Darum beten wir im Glauben an unseren auferstandenen Herrn, der mit dir lebt und herrscht in Ewigkeit.


Pfarrer Stefan Mai

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