Gustavo Gutierrez – der „Vater“ der Befreiungstheologie

2. Predigt in der Reihe „Mit Zorn und Zärtlichkeit“

Bei vielen Menschen spielen für ihre spätere Entwicklung die Erlebnisse der Kindheit eine große Rolle. So auch beim großen peruanischen Befreiungstheologen Gustavo Gutierrez. Über Jahre hinweg war er als Kind schwerkrank. Dieses Erlebnis der Krankheit ließ in dem cleveren Bürschchen den Wunsch wachsen, später einmal Medizin zu studieren und den armen Menschen in ihren Krankheiten zu helfen. Doch Gustavo Gutierrez sollte auf einem anderen Weg zum Helfer und Anwalt der Armen werden. Denn er studierte Theologie. Seine Vorgesetzten schickten den begabten Theologen nach Europa, nach Louvain in Belgien, Lyon in Frankreich und an die Gregoriana in Rom. Bei seiner Rückkehr in die Heimat, nach Lima in Peru, spürte der junge Lehrer und Priester jedoch sehr schnell, dass die klassische europäische Universitätsausbildung nicht geeignet war, um auf die Lebenssituation und die Bedürfnisse der Armen in seinem Land eine Antwort aus dem Glauben heraus geben zu können.

Für sich machte er drei große Entdeckungen:
Als erstes verwehrte er sich dagegen, die Armut in seinem Land als Tugend hinzustellen oder als einen Zustand, den man einfach akzeptieren muss. Gustavo Gutierrez brandmarkte die Armut als destruktiv und ungerecht und forderte von den Menschen, etwas gegen sie zu tun.
Als zweites kämpfte er gegen das Vorurteil, das die reichen Industrienationen gerne ins Feld führen: Armut sei eine Folge der Faulheit oder einfach Schicksal oder Pech. Gustavo Gutierrez wurde nicht müde, zu zeigen, dass die Armut strukturell bedingt ist und die wohlhabenden Nationen auf Kosten der armen leben.
Als drittes wurde er nicht müde, den Armen zu predigen, sie dürfen die Armut nicht als unvermeidlich akzeptieren. Vielmehr müssten sie sich als soziale Klasse empfinden, sich organisieren, um gegen ungerechte Strukturen, die sie nie aus den Klauen der Armut entlassen, anzukämpfen.

Und Gustavo Gutierrez fing an, mit den Armen die Bibel zu lesen. Er wollte ihnen bewusst machen: Der Gott der Bibel hat eine vorrangige Option für die Armen und ist nicht – wie es die Kirche lange in seinem Land war - Bündnispartner der führenden und reichen Schichten. Gott liebt alle Menschen, aber er ist vor allem parteiisch auf Seiten der Armen und der Opfer. Und so las er mit den Armen die biblischen Geschichten aus der Perspektive der Unterdrückten und formulierte seine theologischen Grundsätze aus dem Mitleben mit den Armen. Er betonte, dass seine Theologie, die Befreiungstheologie genannt wird, nicht eine Sache ist, die in den Hirnen theologischer Experten erdacht ist, sondern ein Ergebnis von dem, was er bei den Armen gelernt hat.
In vielen kleinen Gruppen setzten sich die einfachen Bauern und Arbeiter zusammen, lasen die Bibel und entwickelten aus den biblischen Geschichten, wie sie gegen ungerechte Strukturen vorgehen und was sie selbst zu einer Verbesserung eines humaneren Lebens beitragen können. In den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts entwickelten sich so allein in Lateinamerika mehr als 100.000 Basisgemeinden. Ihr Selbstbewusstsein schöpften sie aus der Gewissheit: Gott liebt Gerechtigkeit und ist der große Freund und Anwalt der Armen. Die Frage, die Gustavo Gutierrez ein Leben lang umtrieb, war die Frage, wie man den Armen glaubwürdig verkündigen könne, dass Gott sie liebt. Und er fand keine andere Antwort als diese: Christsein bedeutet, sich auf die Seite der Armen zu stellen und in Solidarität mit ihnen zu leben.

Seine theologischen Gedanken sind in viele offizielle Dokumente der Kirche eingegangen. Für manche Bischofskonferenzen war er ein einflussreicher Berater. Doch unter Papst Johannes Paul II. zog er sich die Gegnerschaft der römischen Kurie zu. Wieder – wie schon bei Dom Helder Camara - der Vorwurf, er hänge marxistischen und linkspolitischen Ideen an. So zog sich Gustavo Gutierrez 1990 weitgehend aus der theologischen Öffentlichkeit zurück. Er trat in den Dominikanerorden ein, um freier in der Diözese arbeiten zu können. Aber was er nicht tat, er wechselte nicht die Seiten. Bis heute lebt der fast 80-Jährige bei und mit den Armen. Er lebt dort, wo er schon aufwuchs, als Pfarrer in einem Slumgebiet in Lima.
Und das ist für mich immer das Überzeugendste an einem Theologen, wenn sie mit ihrem Leben abdecken, was sie verkünden und schreiben.


Pfarrer Stefan Mai

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