Zusammengebunden mit dem Faden des Lebens

Predigt zum 25-jährigen Priesterjubiläum in Üchtelhausen

Leseratten waren vor fünf Jahrzehnten die Üchtelhäuser Familien und Kinder meines Eindrucks nach gerade keine. In den Häusern, in die ich als Kind kam, gab es keine großen Bücherregale. Lesestoff in den einfachen Bauern- und Arbeiterfamilien waren die Volkszeitung oder das Tagblatt, verschiedene kirchliche Blätter wie Sonntagsblatt, Michaelskalender, Marianhiller oder Pallotiner Zeitschriften und das landwirtschaftliche Wochenblatt. Oben im alten Schwesternhaus gab es eine kleine Pfarrbibliothek, hauptsächlich bestückt mit Heimatromanen. Da musste ich manchmal für die Tante einen holen. Unser Lehrer Geyer gab sich in der dritten Klasse viel Mühe mit dem Aufbau einer kleinen Klassenbibliothek, nahm ein paar von uns zum Bucheinkauf nach Schweinfurt mit. Aber viel Erfolg hatte er dabei bei den Üchtelhäuser Kindern nicht. Auch mir war nach der Schule der Straßenfussball oder die Feldarbeit lieber.
Ich weiß nicht warum, aber in der dritten Klasse wollte ich eines Tages eine Bibel. Meine Mutter ging zu Pfarrer Hoos. Der besorgte für mich dieses grüne dicke Buch in Kleinschrift. Und dieses Buch hatte es mir sofort angetan, vor allem die Kämpfergeschichten im Alten Testament. Ich spürte schon als Kind: Diese Geschichten sind keine vergeistigten frommen Märchen oder hochgestochene Lehren, sie sind voll vom Leben mit seiner Schönheit und Tragik, mit seinem Glücksgefühl und Kampf, mit seinem Gelingen und Scheitern. Und ich spürte: Dieser Jesus erzählt von meiner Welt, den Feldern, den Vögeln, den Tieren, von der Arbeit der einfachen Leute. Und gerade diesen einfachen Menschen gehört seine Sympathie.
In kirchlichen Kreisen wird so viel über die besondere Berufung zum Priester gesprochen. Ein besonderes Berufungserlebnis ist mir nicht im Kopf. Aber in der Rückschau nach hinten glaube ich, dass neben der ganz einfachen unverkrampften Frömmigkeit im Elternhaus und der Freude am Gottesdienst es gerade dieses dicke grüne Buch war, das mir den Weg zum Gymnasium und später zum Theologiestudium geebnet hat.

Ich weiß noch gut, wie Pater Franz Sales bei der Volksmission 1964 uns Kindern Fragen zur Bibel stellte und ich ihm jede Frage beantworten konnte, egal ob es die Namen der Könige von Israel waren oder der Name des Berges, auf dem Abraham Isaak opfern wollte. Das machte ihn stutzig und war wahrscheinlich auch der Ausschlag dafür, dass er meinen Eltern die Tür einrannte und es fertig brachte, was kein Lehrer zuvor schaffte, dass ich aufs Gymnasium gehen durfte.
Dieses grüne dicke Buch hat mich im Studium und in meiner ganzen Priesterzeit noch nie losgelassen. Einen großen Teil meiner Lebenszeit habe ich im Grübeln über dieses Buch verbracht. Wie oft habe ich in den 25 Jahren schon über die Geschichten in diesem Buch gepredigt. Und wie oft wundere ich mich, dass einem immer wieder etwas Neues zu diesen alten Geschichten einfällt.
Das wäre nicht möglich, wenn ich in meinem Beruf nicht das Leben studieren könnte. Ich glaube, bis heute ist es die große Chance des Priesterberufes, den Menschen auf der Spur zu sein. Von dem lernen, was sie erzählen und erleben und durchmachen müssen. Auf diesem Weg habe ich viel über den Glauben erfahren und auch von Gott entdeckt. Und ich bin überzeugt: Wem während der Woche etwas am Leben der Menschen auffällt, dem fällt auch am Samstag bei der Predigtvorbereitung etwas zu den biblischen Geschichten ein. Denn auch diese sind dem Leben abgeschaut. Das große Glück und zugleich die große Herausforderung in meinem Beruf ist für mich: Den Lebens- und Glaubensstoff dieser alten Buchseiten mit meinem eigenen Lebensfaden zusammenzubinden und ihn wieder Menschen mitzuteilen, in der Hoffnung, dass sie diese Gedanken in ihrem Leben weiterspinnen.

„Die Menschen machen mich nachdenklich - Ich mache die Menschen nachdenklich,“ kritzelte einmal der berühmte Künstler Joseph Beys während einer Diskussionsrunde auf das Tischtuch. Ich hoffe, dass auch mir weiterhin dies in meinem Beruf geschenkt wird: Dieses alte Buch der Bibel und das Leben der Menschen machen mich nachdenklich. Und wie froh wäre ich, wenn auch ich Menschen mit meinen Gedanken nachdenklich machen könnte.


Pfarrer Stefan Mai

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