Der rote Erzbischof – Dom Helder Camara

Predigt zum 3. Fastensonntag – Predigtreihe: Mit Zorn und Zärtlichkeit

Am 28. August 1999 verstarb der brasilianische Erzbischof von Recife und Olinda, Dom Helder Camara, im hohen Alter von 90 Jahren.
Seit seiner Priesterseminarzeit war er es gewohnt, nachts um 2 Uhr aufzustehen und eine Stunde lang in die Stille der Nacht und in sich hineinzuhören. Oft hielt er seine Gedanken, die dem Leben abgelauscht sind, in kleinen Meditationen fest. In einer schreibt er fasziniert von der Kunst eines Instrumentenstimmers:

„Ich bewundere, ja ich beneide nicht nur dein feines Ohr, das jeden Ton heraushört und in jedem Ton die kleinste Unstimmigkeit, das geringste Intervall wahrnimmt...Ich bewundere, ja ich beneide das sanfte Geschick, mit dem du die verstimmten Töne höher stellst, bis sie wieder im Einklang sind...“

Der dies schreibt, hat gelernt, in seiner Umgebung die Misstöne und die Ungerechtigkeiten im Zusammenleben der Menschen in seinem Land wahrzunehmen, die Dissonanzen und die Spannungen zwischen Arm und Reich, die unsauberen und die falschen Töne der Mächtigen und Einflussreichen. Mit Vehemenz hat er auf sie aufmerksam gemacht und wurde bis ins hohe Alter nicht müde, gegen himmelschreiendes Unrecht vorzugehen und manches unrechte Intervall zu brandmarken und zu beseitigen.
Dom Helder Camara, ein kleines, schmächtiges Männchen von 1,5 m, mit seinem haselnussbraunen, von vielen Falten durchzogenem Gesicht und seinem sanften Lächeln, war einer der großen Hoffnungsträger der Armen und Unterdrückten. „Stimme der Stimmlosen“, „Prophet der Armen“, nannten ihn seine Bewunderer, als „roter Bischof“ wurde er von Machtpolitikern oder auch von manchem Würdenträger gescholten.

Unvergesslich blieb dem begabtem Dom Helder Camara die Lektion, die ihm einer seiner Lehrer nach seinem Primizgottesdienst erteilte. Er hatte in der Predigt mit gelehrten Worten glänzen wollen. Aber nach dem Gottesdienst nahm ein Pater Breno, einer seiner Lehrer, beiseite und sagte ihm: „Sei kein Dummkopf. Du sprichst zu einfachen Leuten. Du musst natürlich reden!“ Diese Lektion saß. Seit diesem Tag war sein Wirken als Priester den einfachen Leuten, den Bescheidenen und Unglücklichen gewidmet.
Als er Erzbischof von Recife wurde, zog er nicht in den bischöflichen Palais ein, sondern in eine kleine Wohnung in einem bescheidenen Anbau einer Innenstadtkirche. Die Tür war immer offen. Eintreten durfte jeder. In der Stadt ging der kleine Mann mit seiner weißen Soutane mit der großen Aktentasche zu Fuß, da der einfache Mann auch kein Auto besaß. Kirche beim Volk, Kirche mit den Armen, war sein Motto. Er wollte nicht mehr eine Kirche verkörpern, die aus einer privilegierten Position her in einer Art Fürsorgepflicht für die Armen und das einfache Volk da war. Nein, er wollte sich mit dem verarmten Volk identifizieren. Das ist sein entscheidender Grundansatz. Deswegen wollte er auch von den Lebensverhältnissen ganz nahe bei de Kleinen wohnen und an deren Seite mit ihnen für ihre berechtigten Anliegen kämpfen. Er war überzeugt: „Besser wird für mich die Welt erst dann, wenn der Kleine in seiner Not an Kleine glauben kann.“ Mit einer ungeheuren Zärtlichkeit nimmt er ihre Sorgen wahr und nimmt am Leben des armen Volkes Anteil. Wieder ein Gedicht aus den nächtlichen Meditationen zeigt dies:

„Wenn Arbeit den kleinen Leuten das Hemd durchnässt,
schau um dich und du wirst sehen,
dass Engel die Schweißtropfen einsammeln,
als wären es Diamanten.“


Gespeist wird diese Liebe zu den Armen aus einer einfachen Theologie. Irgendwo steht Dom HelderCamara vor einer Krippe, künstlerisch gerade nicht überwältigend. Da kommen dem schmächtigen Mann in seiner hellen, verwaschenen Soutane die Tränen. Er greift nach dem hölzernen Bischofskreuz auf seiner Brust und schluchzt: „Mein Jesus, mein Jesus ... Eine Welt, in der sich atmen lässt, eine gerechtere, eine menschlichere, eine göttlichere Welt!“

Das Gesicht, die Gesten, die Hinwendung zu den armen Leuten konnten so zärtlich sein, seine Stimme gegenüber den Mächtigen und Reichen aber so zornig werden. Er wettert: „Wenn ich den Armen zu essen gebe, nennen sie mich einen Heiligen. Aber wenn ich frage, warum die Armen nichts zu essen haben, nennen sie mich einen Kommunisten. Das menschliche Elend ist eine Beleidigung Gottes, es würdigt die Menschen zu Tieren herab.“
In einer Grundsatzerklärung schreibt er schon 1967:
„Gott will nicht, dass die Armen immer elend bleiben. Religion ist kein Opium für das Volk. Religion ist eine Kraft, die die Niedrigen erhebt und die Hochmütigen stürzt, die den Hungernden Brot gibt und die Hochstehenden hungern lässt...Das gegenwärtig herrschende Wirtschaftssystem erlaubt den reichen Nationen, immer reicher zu werden, selbst dann noch, wenn sie den armen Nationen helfen, die dabei jedoch im Verhältnis nur noch ärmer werden.“

Und er bringt wiederum in seinen mitternächtlichen Meditationen dieses himmelschreiende Unrecht in ein einprägsames Bild:

Als ich die Ziegen sah,
die Kette um den Hals,
damit sie ihren Bereich nicht verlassen
und in die Pflanzungen eindringen,
da hatte ich das lang gesuchte Symbol
für eine ganze Welt gefunden, die abseits gehalten wird:
für die unterentwickelte Welt.


Ein Leben lang hat dieser zähe Dom Helder Camara aus der Überzeugung heraus, dass ihm Jesus vor allem als armer Bauchwarenhändler, als Zuckerrohrarbeiter, als Fischerin, als alleinstehende Mutter und als Favelabewohner begegnet, sich für die Anliegen der Armen in Brasilien eingesetzt. Nach seinem Rücktritt mit 75 Jahren wurden viele seine pastoraltheologischen Einrichtungen von Rom aus geschlossen und als Nachfolger ein Bischof eingesetzt, der viel besser Lateinisch spricht als die Sprache der Armen. Doch jeden Tag versammeln sich aus Dankbarkeit viele arme Menschen an seinem Grab in der Kathedrale von Olinda, legen Blumen nieder, sitzen lange dort, beten, denken nach und wollen einfach in der Nähe von Dom Helder Camara sein, den sie bis heute liebevoll den „Bruder der Armen“ nennen.


Pfarrer Stefan Mai

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