Odysseus, lerne zu unterscheiden!

Predigt zum Aschermittwoch 2008

Auch heute noch ist die Odysseus-Legende vielen bekannt. Der griechische Dichter Homer erzählt: Nach der Eroberung der Stadt Troja mit dem berühmten trojanischen Pferd macht sich Odysseus mit seinen Gefährten auf den Weg in seine Heimat, zur Insel Ithaka. Aber es wird eine Irrfahrt: Widrige Winde, Seestürme und neidische Götter jagen ihn über das Meer hin und her. Ständig gibt es Nervenkitzel, die Odysseus herausfordern: wie er aus der Höhle des Menschenfressers Polyphem entkommen kann; wie er es schafft, zwischen Skylla und Charybdis sein Schiff hindurchzumanövrieren. Bei jedem Abenteuer verliert Odysseus Gefährten, zigmal erleidet er Schiffbruch. Aber er rappelt sich immer wieder zum nächsten Abenteuer auf. Er ist geradezu süchtig danach.
Und ständig lauern Versuchungen, die höchstes Glücksgefühl versprechen, deren Kehrseite aber Tod oder Vergessen sind: die Stimmen der Sirenen, die schon viele verzaubert und dann in den Tod gerissen haben. Oder die Göttin Kalypso, die Odysseus Unsterblichkeit verspricht, wenn er seine Heimat und seine Frau auf immer vergisst – und bei ihr bleibt.
Ständig den Kick spüren – so möchten viele Menschen heute leben. Forscher sprechen vom Odysseus-Faktor. Die ständige Sehnsucht nach Erlebnissen. Die Angst, irgendetwas zu verpassen. Im Abenteuer an die Grenzen gehen. Das Lauern nach Glück und Erfüllung. Und immer wieder Schiffbruch erleiden. Und trotzdem weiter den Kick suchen.
In der Odysseus-Legende braucht es das Eingreifen der Göttin Athene, der Göttin der Weisheit, dass Odysseus doch noch an den Strand seiner Heimatinsel gespült wird und zur Ruhe kommt.

Dem Odysseus des 21. Jh. macht die Kirche in jeder Fastenzeit ein Angebot. Sie rät ihm: Geh wieder einmal auf die Reise nach innen! Nimm dir Zeit zur Einkehr bei dir selbst! Denn wer immer nur unterwegs ist, ist nie ganz bei sich.
Gönne dir Augenblick des Aufatmens und Momente der Stille! Frage dich ehrlich, ob du bei der unermüdlichen Jagd nach Ansehen, Karriere oder Geld mitlaufen musst, und ob du dabei das findest, was du suchst!
Verzichte ein zeitlang bewusst auf Ablenkungen und Zerstreuungen und prüfe, wer du wirklich bist und was du wirklich zum Leben brauchst! Sei wachsam, wo man dich von deinen Überzeugungen weglocken will!
Frage dich: Wie kann ich meiner Linie treu bleiben? Was ist es wirklich, was ich suche?
Komm zu dir, Odysseus! Lerne zu unterscheiden!

(nach einer Idee von W. Raible)


Pfarrer Stefan Mai

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