Kennen Sie Ihren Mann, Ihre Frau wirklich?

Predigt zum 2. Sonntag im Jahreskreis (Joh 1,29-34)

Kennen Sie Ihren Mann, Ihre Frau wirklich? Wissen Sie, was er wirklich denkt, was sie im Innersten umtreibt, worüber er grübelt und sich Sorgen macht, wonach sie sich im Geheimen sehnt?
Kennen Sie Ihren Mann, Ihre Frau wirklich? Wissen Sie, worunter er leidet, woran sie knabbert? Wissen Sie, wie er, wie sie sich ein gemeinsames Leben, nachdem die Kinder aus dem Haus sind, vorstellt? Wissen Sie, wovon er träumt, wie für sie ein erfülltes Leben im Alter ausschaut?
Überfällt Sie nicht manchmal der Gedanke: Mein Gott, jetzt leben wir schon so viele Jahre zusammen, leben unter einem Dach, schlafen im gleichen Bett, sitzen am selben Tisch, aber weiß ich wirklich, was ihn, was sie im Innersten bewegt? Da kann das Gedicht des russischen Schriftstellers Jewgenij Jewtuschenko schon zum Nachdenken bringen.

Jeder hat seine eigene, geheime, persönliche Welt.
Es gibt in dieser Welt den besten Augenblick,
es gibt in dieser Welt die schrecklichste Stunde;
aber dies alles ist uns verborgen.

Und wenn ein Mensch stirbt,
dann stirbt mit ihm sein erster Schnee
und sein erster Kuss und sein erster Kampf...
All das nimmt er mit sich.

Was wissen wir schon über die Freunde, die Brüder,
was wissen wir schon von unseren Liebsten?
Und über unseren eigenen Vater
Wissen wir, die wir alles wissen, nichts...



Auf der anderen Seite. Haben Sie nicht auch das schon erlebt? Sie begegnen einem fremden Menschen und spüren in der Begegnung: Seine Gedanken, sein Verhalten sprechen mich ungeheuer an, wie schon lange nicht mehr fühle ich mich verstanden, ja erkannt und ich meine in dieser Person meinen eigenen Lebensentwurf zu erkennen? Oder Sie lesen in einem Buch, schauen einen Film und erkennen sich selbst in einer Rolle und fragen sich: Mensch, wie kann denn der Schriftsteller oder der Regisseur wissen, was mich im Innersten bewegt und Sie fühlen sich im innersten geheimen Winkel ihres Herzens erkannt?

Im heutigen Evangelium trifft Johannes auf Jesus und sagt: „Ich kannte ihn nicht, aber ich bin gekommen, um Israel mit ihm bekannt zu machen.“ In der Begegnung mit dem bis dahin unbekannten Jesus geht ihm die Größe dieses Menschen auf und er fühlt sich durch die Begegnung so beschenkt und angesprochen, dass er sich verpflichtet weiß, das Lebenskonzept Jesu den Menschen bekannt zu machen.

Ich weiß nicht ob es stimmt. Aber manchmal habe ich den Eindruck: Wir sind uns oft zu sicher, wir kennen diesen Jesus. Seit Kindheit an haben wir Geschichten von ihm gehört. Wir kennen die Evangelien, haben Bilder von ihm im Kopf, sind im Gebet mit ihm auf Du und Du. Ob es nicht manchmal gut wäre, sich vorzustellen, ich begegne ihm neu als Fremden, lasse mich neu von seinen Ideen ansprechen, in Frage stellen oder begeistern. Ob mir da nicht wesentlich mehr über Jesus aufgehen würde als mein gewohntes Bild, das ich von ihm habe, gedankenlos zu pflegen?
Und ob es nicht für viele Beziehungen eine ungeheure Bereicherung und eine neue Beziehungsqualität wäre, sich einzugestehen: Ja, trotz der vielen Jahre bleibt mein Mann, meine Frau ein Geheimnis, aber ich versuche, sie, ihn nicht in mein bekanntes Bild einzusperren, sondern für Überraschungen offen zu sein, Neues zu entdecken, um so dem Geheimnis, das in jedem Menschen steckt, auf der Spur zu bleiben?


Pfarrer Stefan Mai

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