Unabgelaufene Füße

Predigt zum Neujahr

Einleitung

Es ist für mich immer ein großes Erlebnis, wenn Neuschnee fällt: Alles ist in ein festliches weißes Tuch gehüllt, fast unschuldig, unberührt. Und wenn man dann spazieren geht und es unter seinen Füßen knirschen hört, dann wird einem bewusst: Mit jedem Schritt in deinem Leben hinterlässt du Spuren.
Leider wird uns das nur in einer Schneelandschaft bewusst … oder vielleicht auch heute an einem Neujahrstag, wo das Jahr noch unschuldig noch vor uns liegt.

Predigt

Der evangelische Theologe Fulbert Steffensky erzählt, wie er mit seiner Enkeltochter einmal eine befreundete Familie besuchte, die gerade ein kleines Kind bekommen hatte. Seine Enkelin war ganz fasziniert von dem Baby, das auf dem Tisch lag und schaute es lange intensiv an. Und ganz plötzlich meinte sie – und streichelte das Baby dabei über die nackten Füßchen: „Es hat so schöne unabgelaufene Füße!“
Unabgelaufene Füße, welch schönes Wort! Da sieht man vor sich: die Zartheit, die weiche Haut, keine Verletzungen, da ist noch keine Hornhaut gewachsen.
Immer, wenn etwas neu anfängt, hat es unabgelaufene Füße.
Wenn ein neuer Lebensabschnitt beginnt. Wenn ein Kind in den Kindergarten kommt.
Wenn der 19-jährige von daheim auszieht und sein Studium beginnt.
Wenn sich eine Beziehung von zwei Menschen voller Illusionen und Unbelastetheit anbahnt.
„Es hat so schöne unabgelaufene Füße.“ Das gilt auch für ein neues Jahr.
Immer, wenn etwas neu ist, überkommt Menschen eine Art gerührter Hoffnung. „Es hat wundervoll unabgelaufene Füße.“ D.h. da ist noch nichts an Enttäuschung, an Verletzung, an altem gedankenlosen Trott, an Ärgerlichkeit und Frustrationserfahrung dran. Das Neue hat noch seinen Glanz, seinen Zauber. Nichts ist verstaubt, verdreckt, ermüdet, wundgelaufen.
Liebe Leser, wir alle, die wir hier sitzen, haben keine unabgelaufenen Füße. Unsere Füße sind schon viele Wege gegangen. Wir haben schon viele Anfänge gesehen, die nicht gehalten haben, was sie versprochen haben. Und trotzdem: Jedes Jahr dieser Zauber. Jedes Jahr diese Hoffnung: Es geht noch einmal neu los.
Ich mit meinen schon 52 Jahre abgelaufenen Füßen darf mit einem Jahr anfangen, das noch unabgelaufene Füße hat.
Ich möchte es mir heute wieder einmal bewusst machen. Dieses neue Jahr 2008 mit seinen unabgelaufenen Füßen ist wieder eine neue Chance. Wenn ich aufmerksam bin, kann ich neue Möglichkeiten, neue Wege entdecken. Wege, die ich noch nie gegangen bin – im wörtlichen und übertragenen Sinn.


Pfarrer Stefan Mai

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