Ein Brief an Johannes – oder: Johannes, so kenne ich dich nicht!

Predigt zum 3. Adventsonntag 2007 (Mt 11,2-11)

Johannes, was ist mit dir los? So kenne ich dich nicht. Du bist nicht mehr der Alte. Wo sind deine scharfen, aufzündelnden Predigten? Wo ist deine Angriffslust, deine Selbstsicherheit? Wo dein absolutes Überzeugtsein, dass du weißt, was Gott von den Menschen will und wie der richtige Weg ausschaut? Wo ist dein selbstbewusstes Auftreten geblieben, deine brüllende Stimme, dein forscher ausgestreckter Zeigefinger, der Menschen den Weg weisen will?

Johannes, so kenne ich dich nicht: Unsicher, fragend, suchend, auf eine Antwort wartend. Du bist nicht mehr der stimmgewaltige Rufer, der wie ein Löwe in der Wüste brüllt, du bist jetzt ein Hinhörender. Du bist nicht mehr der Handelnde und große Impulsgeber, du bist jetzt in einer passiven, abwartenden Rolle.
Johannes, auch wenn ich dich so nicht kenne, ich muss dir ehrlich sagen: So gefällst du mir besser als zu den Zeiten, in denen du mit deinen donnernden Feuerpredigten Menschen das Fürchten gelehrt hast. Wie hasse ich doch die eifrigen Prediger, die selbstverständlich zu wissen meinen, was Gott will, wie er ist – so als wären sie eine Art Privatsekretär in Gottes geheimnisvollen Gemächern oder gar sein Ghostwriter und Terminplaner. Wie suspekt sind mir die, die behaupten, sie wüssten es, was für die Menschen richtig und wichtig sei, ohne sich für ihre oft verstrickten Wege und komplizierten Lebenslagen zu interessieren. Wie verdächtig sind mir alle, die keine Schwäche zugeben, absolute Selbstsicherheit vorspielen und die meinen, sie müssten in der Politik oder in der Kirche einen Zweckoptimismus verbreiten, um die kleinen Leute bei der Stange zu halten oder sie zu beruhigen. Nein, ich mag sie nicht, die nie grübeln, die nie unsicher werden, deren Stimme nie zu wackeln beginnt. Ich schließe mich eher einem alten Karl Rahner an, der einmal meinte: „Gott, ich muss dir gestehen, dass ich nicht zu deinen siegesmutigen und selbstsicheren Aposteln zu gehören vermag, sondern immer mit Furcht und Zittern mich auf den Wege mache. Ich will diese fröhlich Sicheren unter deinen Knechten, meinen Brüdern nicht tadeln, jene, denen man gleich das Bewusstsein ansieht, dass sie im Namen des Herrn der Heerscharen kommen, und die sich dann wundern, wenn man in ihnen nicht gleich den Gesandten des Allmächtigen erkennt. Mir aber gib lieber, dass ich zu deinen demütigen Boten gehöre, die dankbar deiner Gnade, die in der Schwachheit mächtig ist, sich wundern, wenn sie von den Menschen aufgenommen werden“ (Karl Rahner, Gebete des Lebens, S. 129).

Johannes, ich muss dir heute einmal sagen: Als konsequenten Bußprediger, der auch hält, was er fordert, als überzeugenden Asketen, der vorlebt, was er sagt, als den richtungsweisenden Rufer, der weiß, was er will, kann ich dich bewundern und Respekt vor dir zeigen.
Als der, wie du dich heute im Evangelium zeigst, als Verunsicherter, als Fragender, als Suchender, als nach einer Antwort Hungernder, wächst du mir ans Herz. Und nichts von deiner Botschaft verliert an Glaubwürdigkeit!


Pfarrer Stefan Mai

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