Warum nicht? Ein Baum mit Macke

Rorate III

"O, Tannenbaum, o, Tannenbaum, wie schön sind deine Blätter", singt schon unser altes deutsches Volkslied. Und einen schönen Tannenbaum, den wünschen und suchen sich fast alle deutschen Haushalte jedes Jahr.

Da kann mancher sein Lied von der Suche nach einem schönen Tannenbaum singen. Nicht schief gewachsen soll er sein, kein Ast darf fehlen, auf keinen Fall soll der Baum zwei Spitzen haben, die Nadeln könnten etwas kräftiger sein, ob er wirklich noch so frisch ist? Das kann kurz vor Weihnachten zu Familienkrisen führen.

Unseren schönsten Baum hatten wir im Pfarrhaus im letzten Jahr: Das war aber kein Vorzeigebaum – das war ein Baum mit Macke! Wie immer, war ich zu spät dran mit dem Baumkaufen. Der Cap hatte keine mehr – so ging’s zur Lebenshilfe. Schon beim Hineinfahren in den Hof fing die Geschichte vom wunderbaren Baum mit Macke an: Drei Behinderte warteten im Hof auf Käufer – und kamen sofort gerannt, jeder mit einem Baum in der Hand. Die Bäume waren längst ausgesucht. Jeder der drei hatte einen Baum mit Macke in der Hand – aber jeder war stolz auf seinen Baum und lobte ihn mit höchsten Tönen.
Schließlich bekam der Baum, der auf der Rückseite fast keine Äste hatte, den Vorzug. Einer der drei, der sich als Spezialist für das Einpacken der Bäume verstand, achtete dann noch sorgfältig darauf, dass dem Baum mit Macke im Kofferraum ja kein Zweigchen abbrach.

So manches Mal hat mir dieser Tannenbaum mit Macke an Weihnachten die Frage gestellt: Warum nur steckt dieser Wunsch nach einem perfekten Baum gerade an Weihnachten in uns so tief? Wo doch an Weihnachten eine ganz andere Botschaft verkündet wird. Sie lautet: Gott kommt uns mitten in aller Unvollkommenheit entgegen, er kommt in einem Stall voller Mist auf die Welt.
Hat er das nicht gemacht, um vor dem Wahn der Perfektion zu warnen und um zu zeigen: Du bist von ihm angenommen trotz und mit deinen Macken!

Warum müssen es dann immer die perfekten Bäume sein, die auf Dauer genauso langweilig sind wie perfekte Menschen?


Pfarrer Stefan Mai

© Stefan Mai 2001 - 2024
Alle Rechte vorbehalten.
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Pfarrer Stefan Mai.

www.stefanmai.de