Masse oder Stern? Form gewinnen

Rorate II

Zu den wichtigen Dingen in der Adventszeit gehören die Plätzchen. Kaum ein Haushalt, in dem nicht gebacken wird. Die Zeitschriften sind voll von neuen Rezepten. Und wären die Kalorienbomben nicht so hoch im Bewusstsein, Plätzchen wären der absolute Renner. Kaum eine/r würde sie verschmähen.

Als Kind war ich immer beim Plätzchen-Backen dabei. Auf Mutters Geheiß musste oder durfte ich den Teig mit dem Mixer und der Schüssel zwischen den Beinen rühren und dann den Klumpen Teig in den Kühlschrank, der damals noch nicht in der Küche stand, bringen. Auf dem Weg dorthin wurde heimlich vom Teig herunter gepobelt. Und dann das Ausstechen mit den Förmchen. Als Kind habe ich über den Vorgang nie nachgedacht, doch heute gibt mir das Weihnachtsplätzchen zum Denken.

Das Weihnachtsplätzchen wird dadurch zum Weihnachtsplätzchen, dass es ausgestochen wird. In dem Klumpen Teig sind Dutzende Plätzchen enthalten, aber noch nicht als Plätzchen erkennbar. Das Plätzchen entsteht erst in dem Moment, wo ich das Förmchen in die ausgewalzte Teigplatte hineindrücke. Dann entsteht ein Engel, ein Stern, ein Tannenbaum. Das Plätzchen wird zum Plätzchen, indem ich es von der Teigmasse abtrenne und es durch das Ausstechen eine typische Form erhält. Ein normaler Vorgang, man denkt sich nichts dabei, aber eigentlich ist das eine tiefe Predigt für meine menschliche Entwicklung.

Das Weihnachtsplätzchen sagt mir: Du gewinnst erst Form und Gestalt, wenn du dich von der "Masse Mensch" unterscheidest. Für jeden von uns besteht doch die Gefahr: Meine Einzigartigkeit, Originalität, mein Rückgrat und das, was mich eigentlich ausmacht, wird sozusagen an der Garderobe abgegeben, weil ich mich von der Masse nicht unterscheiden will. Man passt sich an, will um keinen Preis anders sein als die anderen, will nicht auffallen, bemüht sich, nicht anzuecken, um ja keinen Ärger zu bekommen, um nicht aus bestimmten Kreisen herauszufallen. Man gibt lieber die eigene Form auf und geht in der Masse unter. Man verliert an Kontur, an Profil, macht das, was "in" ist, reist an Urlaubsorte, die gerade in Mode sind.

"Der Mensch wird als Original geboren und stirbt als Kopie" hat ein Meister der Sprache einmal formuliert.

Hätten Sie liebe Leser, einem einfachen Butterplätzchen eine solche tiefsinnige Predigt zugetraut?


Pfarrer Stefan Mai

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