Anschauen lässt aufblühen

Predigt zum 31. Sonntag im Jahreskreis (Lk 19,1-10)

Sein Name muss eine dauernde Anfrage gewesen sein für die Leute von Jericho und auch für ihn selbst. Zachäus heißt der „Gerechte“. Doch von wegen gerecht! Chef der Zöllner von Jericho zu sein, das verlangt Gerissenheit. Das ist ein Posten, der Härte und Karrierebewusstsein voraussetzt. Nicht durch Gerechtigkeitsempfinden sondern durch Erpressung und Ausbeutung ist er reich geworden. Zachäus hat sich Respekt verschafft und die Leute fürchten ihn. Aber durch diese Gier-Karriere hat er sich ins Abseits der Dorfgemeinschaft gestellt. Jeder macht um diesen Betrüger einen Bogen, jeder ist froh, diesen Aufsteiger nicht zu sehen. Keiner will mit ihm zu tun haben. Überall wenden sich Augen von im ab. Auf Schritt und Tritt wird ihm signalisiert: Geh mir aus den Augen!

Und dann dieser Augenblick. Jesus kommt nach Jericho. Und Zachäus möchte ihn aus einem Versteck heraus, oben im Maulbeerfeigenbaum, wenigstens sehen. Und da Etwas geschieht etwas völlig Unerwartetes. Jesus sieht ihn. Im griechischen Urtext steht hier „anablepsas“, das heißt: „Er sah auf“. Bisher haben die Leute auf Zachäus herabgeschaut oder an in vorbeigesehen. Aber da ist plötzlich einer, der zu ihm aufschaut, der zu ihm hochschaut, der ihm Ansehen gibt. Und das Wunder geschieht. Ein Mann, der zu hoch hinaus wollte und dabei über Leichen ging, ein Mensch der sich verstiegen hatte, steigt herab und gliedert sich wieder in die menschliche Gemeinschaft ein. Keine Ermahnung, keine Bußpredigt, keine Drohung hat diese Veränderung bewirkt. Nein es war dieser Augenblick, als sich zwei Menschen mit Respekt, Hochachtung und Güte anblickten.

Liebe Leser, was ein Blick alles bewirken kann. Welche Folgen ein Blick haben kann, das wissen oder ahnen wir. Das weiß das Kind, zu dem sein Lehrer mit Bewunderung hochschaut. Das weiß der Mann, der sich jeden Tag darauf freut, wenn er heimkommt und seine Frau ihn anlächelt. Das weiß die pflegebedürftige, alte Frau, wenn die Tür aufgeht und Schwester Maria mit freundlichen Augen sie anschaut. „Anschauen lässt aufblühen!“ – diesen Satz habe ich mir einmal in mein Notizbuch notiert.
Die Art des Aufschauens Jesu zu Zachäus ist aber noch mehr als Sympathiebekundung. Dieses Aufschauen sieht in einem Menschen hinter dem Vordergründigen das versteckte Hintergründige, hinter dem Augenfälligen das Verborgene, das noch nicht Entwickelte. Um diesen tiefen Blick auf Menschen betet der Schweizer Dichterpfarrer Kurt Marti einmal so:

Ach, dass ich, wenn´s drauf ankommt,
im Gegner den Bruder,
im Störer den Beleber,
im Unangenehmen den Bedürftigen,
im Süchtigen den Sehnsüchtigen,
im Säufer den Beter,
im Prahlhans den einst Gedemütigten,
im heute Feigen den morgen Mutigen,
im Mitläufer den morgen Geopferten,
im Schwarzmaler den Licht- und Farbenhungrigen,
im Gehemmten den heimlich Leidenschaftlichen
erkennen könnte!

Leicht ist das nicht.
Es bräuchte, o Gott, die Gegenwart
Deines Geistes!


Pfarrer Stefan Mai

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