Selig und von Gott verlassen

Predigt zum Allerheiligentag 2007

„In meinem Innern ist es eiskalt.“
„Diese furchtbare Leere. Gott vernichtet alles in mir.“
„Ich glaube nicht, dass ich eine Seele habe, da ist nichts in mir.“
(Aufzeichnungen aus dem Jahr 1955).

„Es schmerzt ohne Unterlass. Ich habe keinen Glauben. Man erzählt mir, dass Gott mich liebt. Jedoch ist die Realität von Dunkelheit und Kälte so überwältigend, dass nichts davon meine Seele berührt.“ (Aufzeichnungen aus dem Jahr 1959).

„Seit den Jahren 49 oder 50 dieses furchtbare Gefühl der Verlorenheit, diese unbeschreibliche Dunkelheit, diese Einsamkeit. Der Platz Gottes in meiner Seele ist leer. In mir ist kein Gott. Er will mich nicht.“ Aufzeichnungen aus dem Jahr 1961).

Was meinen Sie? Von wem stammen diese Sätze? Sie werden es kaum glauben können. Diese Zitate stammen von keinem anderen als von Mutter Teresa. Diese Frau wurde binnen kurzer Zeit seliggesprochen. Eine starke Frau, scheinbar fest im Glauben. Das Verfahren zur Heiligsprechung läuft. Doch zum 10. Todestag wurden nun Aufzeichnungen veröffentlicht, die ein ganz anderes Bild zeichnen. Sie stammen aus Briefen, aus Aufzeichnungen und Tagebuchnotizen Teresas. Zeitlebens bat sie ihre Briefpartner, diese intimen Dokumente zu vernichten. Sie erscheint darin als ein Mensch, der an Gott zweifelt. der nichts von ihm spürt – und sich scheinbar von ihm verlassen fühlt.

Und dabei kennen wir Mutter Teresa ganz anders. Das Lächeln war ihr Markenzeichen. Man meint, sie schwebe im himmlischen Glück. Mutter Teresa lächelte sich durch die Weltgeschichte. Ihre Schwestern wies sie an, jedem Menschen freundlich zu begegnen. In der Dankesrede zur Verleihung des Friedensnobelpreises nannte sie das Lächeln den Anfang der Liebe. Sie selbst aber spürte wenig Grund zur Freude. Sie glaubte sich von Gott verlassen.

Und Teresa spürte diesen inneren Zwiespalt. 1985 schreibt sie: „Wenn ich meinen Mund aufmache, um zu den Schwestern von Gott und Gottes Werk zu sprechen, gibt es ihnen Licht, Freude und Mut. Doch ich selbst bekomme nichts davon. In mir ist alles dunkel und ein Gefühl, dass ich von Gott total abgeschnitten bin.“ Kann jemand, der so an Gott zweifelt, heilig sein? „Heilige“, das sind doch Menschen mit felsenfestem Glauben, die nichts aus der Bahn werfen kann. Ich glaube, wir täuschen uns. Wenn ich auf Mutter Teresa schaue, macht „Heiligkeit“ etwas ganz anders aus.

Teresa fühlt sich von Gott abgelehnt – und sehnt sich doch sehr nach ihm. Sie schreibt vom Hunger nach Gott – und von dem furchtbaren Gefühl, von ihm ungewollt zu sein. Aber gerade dieser Seelenzustand treibt sie zum Handeln: Ein Leben lang steht sie neben denen, die niemand will. Ein Leben lang liest sie die Sterbenden und die verstoßenen Kinder von der Straße auf. Ein Leben lang setzt sie sich für die Kinder ein, die – von den Eltern ungewollt – nicht zur Welt kommen sollen. Es ist ihre Lebensvision, „jedes einzelne geborene oder ungeborene Kind zu einem gewollten“ zu machen.

Das weiß Mutter Teresa: Das Gefühl, gewollt zu sein, angenommen zu sein, dass mir jemand freundlich zulächelt, das ist die Ursehnsucht eines Menschen. Sie selbst ist jemand, der darunter leidet: Nicht einmal Gott nimmt sie an. Und gerade deswegen versucht sie, anderen Menschen dieses Gefühl zu geben. Und es ist ihr gelungen. Alle Welt hatte den Eindruck: Durch diese Frau scheint etwas von Gott in unsere Welt. Durch diese Frau lächelt Gott die Menschen an.

Liebe Leser,
„heilig“ ist nicht ein Mensch, der im siebten Himmel schwebt, der unerschütterlich glaubt, der aller Zweifeln enthoben ist. Nein! Wenn ich auf Mutter Teresa schaue, muss ich sagen: Heilig ist ein Mensch, der andere spüren lässt: Du bist gewollt. Du bist angenommen – auch wenn er sich selbst da nicht immer sicher ist.


Pfarrer Stefan Mai

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