Voll in die Farben

Predigt zum Erntedankfest 2007

Ich lese zur Zeit zwei Lyrikbände von zwei bekannten deutschen Dichtern: „Ganz ungetröstet bin ich nicht“ von Johannes Kühn und „lindennacht“ von Reiner Kunze. Die beiden Schriftsteller sind inzwischen ins Alter gekommen und setzen sich in ihren neuesten Werken mit dem Alter auseinander. Interessant und zum Nachdenken sind die Bilder, die sie über das Alter entwerfen. Mit Gelassenheit, mit Wehmut, manchmal auch mit Spott und bissiger Ironie schauen sie auf den Herbst des Lebens, in den sie gekommen sind.

Überhaupt fasziniert es mich, wie das Alter sich bei großen Künstlern, bei Malern, Dichtern, Musikern und Architekten auswirkt und wie sie im Vergleich zu früheren Jahren im Alter arbeiten. Ich beobachte zwei entgegengesetzte Tendenzen:
Die einen arbeiten immer reduzierter, ihre Formen werden immer abstrakter und einfacher. Oft versuchen sie das Wesentliche mit ganz klaren Formen, mit nur wenigen Pinselstrichen auszudrücken. So wissen wir vom großen russischen Komponisten Schostakowitsch, dass er, je älter er wurde, immer weniger laute Instrumente, immer kleinere Orchesterbesetzungen einsetzte und sein letztes Werk für Klavier und Geige in ein langsames Verstummen führt. Wer einmal die prunkvolle Residenz in Würzburg, die Balthasar Neumann auf der Höhe seiner Kraft baute, mit seinem Alterswerk Maria Limbach vergleicht, der spürt, wie einfach, klar und immer schnörkelloser seine Formen im Alter geworden sind.
Andere dagegen gehen im Alter den entgegengesetzten Weg, bieten noch einmal alles auf und bringen ein wahres Feuerwerk an Farben auf die Leinwand. Ich betrachte zur Zeit oft die Bilder eines alten Künstlers, der in jungen Jahren viel in abstrakten Formen und mehr in Brauntönen gearbeitet hat und jetzt im Alter noch einmal voll in die Farben geht. „Die meisten Menschen,“ meint er, „sehen überhaupt nicht mehr die Farben, die in der Natur vorhanden sind und die sie zur Verfügung stellt. Ich möchte sie den Menschen zeigen und nicht in eine Traurigkeit verfallen. Ich möchte zeigen, dass das Leben Farbe hat und das größte Geschenk ist.“

Es macht schon nachdenklich, dass in der Natur gerade der Herbst ein wahres Feuerwerk an Farben aufbietet. Der Herbst legt sich nochmals ins Zeug und scheint fast das Frühjahr an Farbigkeit übertreffen zu wollen. Die Früchte auf den Erntedankaltären zeigen sich uns in den vielfältigsten Farbnuancen und –schattierungen. Welche Farbpalette wird uns da vor Augen gestellt.
Die Kinder unseres Kindergartens werden heute (morgen) im Erntedankgottesdienst vom Altar aus eine große Rolle mit bunten Farben in den Kirchenraum hineinrollen und dabei das Lied singen: „Segen des Himmels erfülle uns, mögen uns leuchten die Farben des Lebens.“
Ja mögen sie uns leuchten die Farben des Lebens, egal in welchem Lebensalter wir stehen.


Pfarrer Stefan Mai

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