Woher kommst du?

Festpredigt zu Mariä Geburt in Hassfurt am 8.September 2007

Wo kommst du denn her?

Ich bin schon lange aus meinem Heimatort Üchtelhausen weg. Wenn ich heimkomme wird mir oft klar: Die meisten Gesichter deines Heimatdorfes kennst du nicht mehr. Bekannt sind dir noch die älteren Leute, die Bauern und Familien aus dem Altdorf. Die, die mit dir in die Volksschule gegangen sind. Aber die Neuzugezogenen und auch die meisten Kinder und jungen Leute sind dir fremd. So frage ich manchmal Kinder und Jugendliche, an deren Gesichter ich eine bestimmte Art zu erkennen glaube: „Zu wan ghörst du denn?“ Oder: „Wu stammst du denn raus?“ Wenn ich dann den Namen seines Vaters, Opas oder seiner Mutter höre, dann kann ich das unbekannte Gesicht schnell einordnen, ja es tauchen bestimmte Erinnerungen an früher auf und wie schnell ist man aufgrund der Erfahrung mit seiner Familie geneigt, sich im Kopf ein Bild des Kindes oder Jugendliche zurecht zu legen.
Die Herkunft eines Menschen prägt stark das Bild dieses Menschen mit, ja, sie gestaltet oder programmiert oft schon seine Zukunft mit. So ungerecht es ist. Wir brauchen uns da nichts vorzumachen - trotz allem Gerede von Chancengleichheit: Wenn jemand einen Vater mit Namen hat, der hat’s einmal mit seiner Karriere leichter, die Beziehungsschienen laufen da geschmierter als sonst. Da beißt die Maus den Faden nicht ab: Wer aus einer Akademikerfamilie stammt, die davon überzeugt ist: Eine gute Bildung oder Ausbildung ist Kapital für die Zukunft, wird viel mehr Wert auf eine schulische Förderung legen als Eltern, die selbst nicht die Möglichkeit zu einem Hochschulabschluss hatten. Kinder, die jahrelang erwerbslose Eltern und die negativen Auswirkungen einer Arbeitslosigkeit erleben, stehen viel mehr in der Gefahr, später selbst in Arbeitslosigkeit zu fallen als Kinder die von klein auf erleben dürfen: Arbeit hat Erfolg. Und wie weh tut es einem, wenn man sieht, wie gerade junge Leute, deren Eltern es miteinander schwer hatten und nach vielen Versuchen keinen anderen Weg als die Scheidung sahen, sich vornehmen: Bei uns wird die Beziehung einmal ganz anders verlaufen – und dann doch das gleiche erleben wie ihre Eltern.

Worauf die Apokryphen Wert legen

Es ist äußerst auffällig: Im NT, in der Urkunde unserer Glaubensgeschichte wird nichts, aber auch gar nichts davon erzählt, wo Maria, die Mutter Jesu herkommt. Nichts von ihrer Geburt, die wir am heutigen Festtag feiern, nichts von ihren Eltern, nichts von ihrer sozialen Herkunft. Im NT, wo die ältesten Urkunden unseres Glaubens gesammelt sind, ist das kein Thema.
Doch schon Mitte des 2.Jahrhunderts wächst in frühchristlichen Legendenerzählungen das Interesse an der genauen Herkunft der Vorfahren Jesu. Man will genau wissen, wo Jesus herkommt. Man will es Schwarz auf Weiß haben: Jesus ist etwas Besonders. Er hat respektable Vorfahren. Die Apokryphen, so heißen diese Legenden, wollen Licht ins Dunkel bringen und die Leerstelle der Familiengeschichte Jesu füllen. Sie wollen herausgefunden haben: Schon die Eltern der Maria, Joachim und Anna, stammen aus einem vornehmen Priestergeschlecht, waren fromme und aufrichtige Leute, hatten es aber wie viele große Gestalten in der Bibel nicht leicht. Sie waren schon über 20 Jahre verheiratet, ohne Kinder zu bekommen. Wie ein grauer Schleier lag dieser Fluch der Kinderlosigkeit über ihrem Leben. Eines Tages, als Joachim, der Priestervater von Maria, ein Brandopfer in den Tempel bringen wollte, wurde er als Kinderloser als Schande des Volkes beschimpft und als ein Verfluchter verstoßen. In seinem Kummer ging er in die Wüste. Als zwanzig Jahre scheinbar vergeblichen Betens und Wartens vergangen waren, erschien dem Joachim in der Wüste und der weinenden Anna in der Kammer zur gleichen Stunde ein Engel mit der frohen Botschaft, dass Gott ihr Flehen erhört habe: „Anna, du wirst empfangen und eines Kindes genesen, das auf der ganzen Erde verherrlicht wird.“ In ihrer großen Freude eilten die beiden zum Tempel und trafen sich an der goldenen Pforte, um Gott zu danken. Und Maria kam wie versprochen zur Welt. Aus Dank brachten Joachim und Anna drei Jahre später an den Tempel, wo sie zum Dienst Gottes als Tempeljungfrau erzogen wurde. Die Apokryphen wissen: Diese, in der gottschwangeren Tempelatmosphäre wohlerzogene Maria, hat sich Gott als Mutter seines Sohnes ausgesucht und ihr durch einen Losentscheid dem frommen Witwer Josef an die Seite gestellt.

In der Bibel: Jesus ein Newcomer

Von solch frommen Geschichten wissen unsere Evangelien nichts. Im ältesten Evangelium betritt Jesus als völlig Unbekannter die Bühne. Als der Sohn eines Zimmermanns aus einem unbekannten Kaff. Niemand weiß, woher er kommt, niemand interessiert sich groß für seine Eltern und Großeltern, niemand weiß etwas von der vornehmen und besonderen Geburt Marias.
Liebe Leser, spüren Sie, dass hinter den Erzählungen des NT und der Apokryphen verschiedene Geisteshaltungen stehen? Die Apokryphen setzen alles dran, zu wissen, woher Maria stammt und welch besondere Mutter Jesus hat. Dem NT reicht es zu wissen, welche Ideen Jesus begeistert haben, wie er von Gott gesprochen und wofür sein Leben eingesetzt hat.

Diese Beobachtung stellt die Frage: Ist Kirche eine geschlossene Gesellschaft der bürgerlichen Mittelschicht oder ist die Gruppe derer, die denen eine Chance gibt, die keinen besonderen Stammbaum aufweisen können?
Strahlen unsere Pfarrgemeinden die Botschaft aus: Erwünscht in unseren Reihen sind gut situierte und wohlerzogene Menschen oder sind auch Menschen willkommen, die nicht aus makellosen Familien und Verhältnissen stammen.
Sind wir beruhigt, wenn unseren Pfarreigremien mit Persönlichkeiten aus den führenden Schichten und bedeutenden Familien des Ortes besetzt sind oder kamen wir schon einmal auf die Idee, bewusst einen Arbeitslosen, eine allein erziehende Mutter, einen Hartz-IV-Empfänger um Mitarbeit zu bitten?
Ich glaube, es stimmt, was Carl Orff einmal gesagt hat: „In einer Zeit der Wurzellosigkeit hat das Verwurzelte besondere Stoßkraft.“ Und ich bin überzeugt: Für einen Menschen ist es ungeheuer wichtig, selbst Wurzeln zu haben. Das Neue Testament stellt aber eine provozierende These auf. In ihm lebt die Überzeugung: Wichtiger als dein Stand in der Gesellschaft, wichtiger als deine Familienlinien ist die Frage: Hast du Wurzeln in Gott. Wichtiger als die Frage: Woher kommst du? ist die Frage: Wofür lebst du? Wenn ich dieser These zustimme, dann ahne ich: Unsere Pfarrgemeinden haben noch viel vor sich!


Pfarrer Stefan Mai

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