Aus einem anderen Blickwinkel

Predigt zum 22.Sonntag im Jahreskreis (Lk 14,1.7-14)

„Du bist doch der letzte Kerl!“ Oder: „Du bist doch der Letzte!“ Wenn diese Sätze in der Umgangssprache fallen, dann herrscht Alarmstufe. Dann ist zu einem Menschen das Vertrauen verloren gegangen, dann ist Beziehung gestört. Da will einer mit dem anderen nichts mehr zu tun haben. Wenn du diese Worte zu hören bekommst, dann weißt du: In der Beziehungsskala rangierst du ganz unten. Tiefer kannst du in der Gunst eines Menschen nicht mehr fallen.

Im heutigen Evangelium dagegen soll es ein erstrebenswertes Ziel sein, der Letzte zu sein. Da betreibt Jesus Werbung für den letzten Platz: „Wenn du eingeladen bist, setz dich auf den untersten Platz!“ Aber irgendwie werden wir bei diesem Satz Jesu das Gefühl nicht los: Dieses Setzen auf den letzten Platz ist am Ende nichts anderes als Taktik, nichts als eine fiese berechnende Duckserei, nichts als ein falsches Spiel. Es geht ja doch nur um Gunsthascherei, um schnelles Aufrücken nach oben.

Wir müssen genauer hinschauen! Da heißt es: „Als Jesus bei einem Gastmahl bemerkte, wie sich die Gäste die Ehrenplätze aussuchten, nahm er dies zum Anlass, ihnen ein Gleichnis* zu erzählen.“ Und Jesus erzählt von einem Hochzeitsmahl. Das Hochzeitsmahl ist wieder einmal ein Bild für das Reich Gottes und der Gastgeber kein geringerer als Gott. Somit ist dieses Gleichnis weit mehr als ein Hochdien-Knigge oder ein Rezept aus der Trickkiste, wie man in der Öffentlichkeit größere Aufmerksamkeit auf sich lenken kann. Das Gleichnis erzählt von der Rangordnung vor den Augen Gottes. Und dafür rät Jesus. „Setz dich auf den letzten Platz!“ Denn vor ihm wird jede Rangelei um die besten Plätze lächerlich. Da wird es zur Farce, wenn Menschen sich einordnen in Bessere und Schlechtere. Gott allein behält sich das endgültige Urteil vor. „Nimm vor ihm den letzten Platz ein!“ Das heißt: Erspare es dir, darüber nachzudenken, wer denn schlechter ist als du. Hör damit auf, dich mit anderen zu vergleichen und dir den Kopf darüber zu zermartern, wer jetzt besser ist, sie oder du? Maße dir nicht an zu beurteilen, wer in der Rangordnung höher steht. Setz dich auf den letzten Platz, dann brauchst du nicht überlegen, wer denn schlechter wäre als du. Schau lieber mit größerer Hochachtung auf Menschen. Auf deine Güte-Einstufung von Menschen kommt es überhaupt nicht an. Hüte dich vor dieser Anmaßung.

Liebe Leser, in dieser Woche las ich eine Buchbesprechung über den neuen Roman des jungen Brasilianers Bernardo Carvalho mit dem Titel „Neun Nächte“. In diesem Roman stehen die Sätze: „Einmal, als er mir von seinen Reisen durch die Welt erzählte, fragte ich, wohin er gelangen wolle, und er sagte, er sei auf der Suche nach einem Blickwinkel. Ich fragte: „Mit Blick worauf?“ Er antwortete: „Einen Blickwinkel, bei dem ich nicht mehr im Blickfeld bin...“
Ob nach den Worten Jesu nicht gerade solche Menschen bei Gott im Blickfeld sind?

* So wörtlich im griechischen Originaltext. Die Einheitsübersetzung übersetzt irreführend: „… ihnen eine Lehre zu erteilen“.


Meditation nach der Kommunion

Du bist Mensch geworden.
Ich muss nicht tun, als wäre ich Gott.
Du hast den untersten Platz eingenommen.
Ich muss nicht so tun, als sei ich ganz oben.
Du hast dich erniedrigt.
Ich muss nicht so tun, als stünde ich über allem.
Du bist sterblich geworden.
Ich muss nicht versuchen, unsterblich zu sein.
Du bist schwach geworden.
Ich muss nicht immer Stärke beweisen...
Ich muss nicht so tun als ob...

(Hildegard Nies in Laacher Messbuch 2007, S. 647)


Pfarrer Stefan Mai

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