Ahnengalerie des Glaubens

Predigt zum 20. So. i. Jahreskreis (Hebr 12,1-4)

Predigt

Wenn man im Urlaub am Abend in einem Gebirgsort im Wirtshaus sitzt, hat man den Eindruck: Für viele Hobbybergsteiger ist der Höhepunkt einer Bergtour nicht das Erreichen des Gipfels, sondern der abendliche Plausch; dann, wenn man erzählen kann, was man tagsüber alles geleistet hat: wie viele Höhenmeter man gemacht hat, welchen Klettersteig man geschafft hat, wie nahe man an den Gämsen war, wie knapp man dem Steinschlag entgangen ist. Erst dann scheint man richtig zufrieden, wenn man etwas mehr zu bieten hat als die anderen, wenn man in Bereiche vorgedrungen ist, wo die anderen nicht mehr mitkönnen.

Im Urlaub war ich mit meinem Freund beim Bergwandern. In den Berghütten ist uns aufgefallen, dass direkt am Eingang, wo man in die Gaststube ging, kleine Bildergalerien hingen. Es waren Sterbezettel in Glasrahmen. Wenn wir die Hüttenwirtin fragten: Wer sind diese Menschen? Und warum hängen ihre Bilder hier?, bekamen wir jedes Mal die gleiche Antwort: Das waren ehemalige Almbäuerinnen und Almbauern, die Jahrzehnte lang in diesen Tälern gelebt haben, die die Steige über die Berghöhen getreten und befestigt haben, die hier die Wasserleitungen gelegt haben, die die ersten Almhütten gebaut haben und die ständig die Infrastruktur in diesen Tälern für Vieh und Mensch verbessert haben.
Aber auf den Bildern waren oft auch ganz junge Menschen zu sehen: Bergführer, Skifahrer oder begeisterte Tourengänger, die in diesem Tal abgestürzt sind oder von Lawinen überrollt wurden. Wegen ihrer Zähigkeit, Begeisterung und ihrem Einsatz dafür, Wege im unwegsamen Gelände zu finden, wollen die Bilder in den Hütten die dankbare Erinnerung an sie bewahren.
Wenn ich diese Bildergalerien vor Augen habe, dann scheinen mir all diejenigen auf dem Holzweg, die meinen: Wenn ich oben auf dem Gipfel stehe, dann ist das ist alleine meine Leistung.

Diese Ahnengalerien vor Augen höre ich klar ihre Botschaft: Wenn du den Berg hinaussteigst, vergiss nicht: du steigst immer in die Fußstapfen anderer, die für dich Wege gebahnt und erhalten haben.
Der Hebräerbrief führt heute in der Lesung eine Ahnengalerie des Glaubens vor Augen, eine Wolke von Zeugen, das heißt Menschen, die mir im Glauben vorausgegangen sind
Da heißt es: „Da uns eine solche Wolke von Glaubenszeugen umgibt …, lasst uns mit Ausdauer in dem Wettkampf laufen, der uns aufgetragen ist.“

Ich glaube: Der Hebräerbrief will mit seiner Wolke von Zeugen bei seinen Zuhörern nichts anderes erreichen als die Berghütten-Bildergalerien bei den Wanderern. Er will ihnen sagen: Vergiss nicht die Menschen, die vor dir geglaubt haben, die vor dir in ihrem Glauben Erfahrungen gesammelt und versucht haben sie weiterzugeben. Sie sind auch heute für dich eine Lebenshilfe.

Liebe Leser,
es war eine gute Gewohnheit, im eigenen Gesangbuch sich eine Ahnengalerie von Sterbezetteln anzulegen. Die Bildergalerien der Almhütten und der Hebräerbrief raten uns, ab und zu ganz bewusst einmal im Gesangbuch zu blättern, sich die Bilder auf den Sterbezetteln anzuschauen, die Sprüche darauf zu lesen und sich dabei unserer Vorgänger im Leben und im Glauben dankbar zu erinnern.

Fürbitten

Herr, unser Gott, unser Leben ist ein Weg, von dem keiner weiß, wie lange er dauern wird und durch welche Landschaften er uns führen wird.
Wir bitten dich:

- Wir beten für alle Menschen, deren Lebensweg zur Zeit auf der Sonnenseite des Lebens liegt. Um die Gabe der Dankbarkeit …
- Wir beten für alle, deren Lebensweg zur Zeit durch Wüsten führt und von Schmerz, Krankheit, großen Sorgen oder Aussichtslosigkeit geprägt ist: um Kraft zum Durchhalten …
- Wir beten für alle jungen Menschen, die sich entschlossen haben, gemeinsam in der Ehe ihren Lebensweg zu gehen und eine Familie zu gründen: um dein Weggeleit …
- Wir beten für unsere Verstorbenen, die uns im Leben und Glauben geprägt haben und denen wir vieles verdanken: um ein Leben in Fülle bei dir …

Gott, darauf vertrauen wir, dass du im Leben bei uns bist in guten und bösen Tagen. Dafür danken wir dir durch Christus, unseren Herrn.


Pfarrer Stefan Mai

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