Passwort für das ewige Leben

Predigt zum 15. Sonntag im Jahreskreis

Wer Computer benutzt, weiß, was ein Passwort ist. Ich gebe mein Geheimwort ein. Erst dann gewährt mir der Computer zur weiteren Arbeit freien Zugang.
Im heutigen Evangelium fragt ein Gesetzeslehrer Jesus nach dem Passwort für ein geglücktes Leben: „Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen?“ Und Jesus antwortet mit dem berühmten Gleichnis vom barmherzigen Samariter.
Dieser barmherzige Samariter hat im Lauf der Geschichte das Selbstverständnis der Christen geprägt und eine Kultur der Nächstenliebe geschaffen. Dieser Einsatz der Christen für den Mitmenschen, der Leid und Not durchmachen muss, hat die antike Welt ungeheuer beeindruckt und das Christentum im 2. und 3. Jahrhundert groß gemacht. Die frühe Kirche hat dieses Gleichnis, das die Gesinnung Jesu wie in einem Brennpunkt bündelt, inspiriert, das Amt des Diakons hervorzubringen, der sich um die Notleidenden kümmerte und Hilfsnetzwerke in Hungersnöten und Epidemien aufbaute. Als Vorbild stand der barmherzige Samariter auch der Kirche des Mittelalters vor Augen, als sie anfing, große Spitäler zu bauen. Und der barmherzige Samariter ist bis heute für den organisierten Dienst der Caritas und der Diakonie die große Symbolfigur. Das Passwort zum ewigen Leben heißt nach diesem Gleichnis: Liebe. Ein mitfühlendes Herz und hilfreiche Hände für Mitmenschen, die Hilfe brauchen.

Liebe Leser! Es macht sehr nachdenklich, dass ausgerechnet ein Priester und Levit, also zwei Kenner der hohen Tempelliturgie, dieses Passwort nicht finden und am Mann, der unter die Räuber gefallen war, vorbeirennen. Zwei, die vor Gott in die Knie gehen und ihm im Tempel die höchsten Töne singen und sich mit den Riten und Reinheitsvorschriften bestens auskennen, beugen sich nicht zu dem Hilfsbedürftigen herab.

In dieser Woche macht mich dieser barmherzige Samariter nach dem Schreiben von Papst Benedikt XVI. über den Gebrauch der alten tridentinischen Messliturgie noch nachdenklicher. Wir diskutieren nun wieder einmal mehr mit vollem Eifer über den Sinn oder Unsinn einer stärkeren Akzeptanz und Förderung des tridentinischen Ritus.
Wir debattieren darüber, wie stark eine Gruppe sein muss, damit sie diese vorkonziliare Messliturgie einfordern kann. Wir reden uns auf Konferenzen die Köpfe heiß, wie groß der Bedarf ist, wer diese Liturgie feiern kann oder nicht – und in welchen Kirchen das sein soll. Befürworter der alten Liturgie schwärmen vom Geheimnischarakter, der durch Latein und strenge Riten zelebriert wird und unterstellen so manchem modernen Priester mangelndes liturgisches Gespür und wehren sich gegen jede Experimentierfreude im Gottesdienst. Umgekehrt hegen die Modernen den Verdacht, dass unter dem Deckmantel der Schönheit der Liturgie wieder ein veraltetes Priester- und Kirchenbild neu aufgerollt werden soll.

Das heutige Evangelium vom barmherzigen Samariter legt bei solchen Diskussionen den Finger in die Wunde und fragt an, ob derzeit in unserer Kirche nicht die Sorge um Choral und exakte Riten deutlicher ausgeprägt ist als die Aufmerksamkeit für den Schrei der Hilfsbedürftigen.


Pfarrer Stefan Mai

© Stefan Mai 2001 - 2024
Alle Rechte vorbehalten.
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Pfarrer Stefan Mai.

www.stefanmai.de