Das Kriterium Jesu

Predigt zum 11. Sonntag im Jahreskreis (Lk 7,36-50)

„Das Mahl mit den Sündern“ heißt das wohl bekannteste Bild des Malerpfarrers Sieger Köder. Es ist 1973 entstanden. Der Künstler malte es für den Speisesaal der Villa San Pastore, einem Landgut, das zum Germanicum in Rom gehört, dem Studienseminar für die deutschsprachigen Theologen.
Sieben Personen sitzen am Tisch. Es sind keine Vorzeigefiguren. Am ehesten noch der Herr Professor, scharf denkend mit Brille, aber auch er irgendwie eine lächerliche Figur. Und ein jüdischer Frommer, sinnierend, auf seinen Schultern ein Gebetsschal. Aber die anderen! Ein verwundeter Afrikaner mit verbundenem Arm sitzt dort. Eine etwas deplaziert wirkende Dame, ein geschminkter Komödiant. Eine alte, blinde Frau, krumm und bucklig. Und dann noch eine Dirne mit traurigem Blick, über die mit vorgehaltener Hand getuschelt wird. Alle Figuren schauen auf einen, von dem nur die Hände zu sehen sind, die sich ihnen entgegenstrecken und das Brot austeilen. Und jeder Betrachter des Bildes weiß, wer damit gemeint ist: Jesus, der niemanden ausstößt oder verachtet.

Ich stelle mir vor, die Verantwortlichen des Germanicums, der Kaderschmiede für Kirchenmänner in späteren Spitzenpositionen, würden heutzutage einem Künstler den Auftrag für ein Wandbild des Speisesaals erteilen. Ich wage es zu bezweifeln, ob sie sich es noch trauen würden, ein Mahl der Sünder ihren Studenten vor Augen zu stellen. Ich glaube eher, bei der derzeitigen Großwetterlage unserer Kirche wäre vielen ein braves Abendmahlsbild lieber. Da würden dann bei einem Versuch der Übertragung in die heutige Zeit sicherlich auch römische Krägen oder Soutane unter den Tischgenossen zu finden sein.

Und ich stelle mir weiter vor, man würde Jesus einladen und ihn fragen können, welches der beiden Bilder seiner Lebenseinstellung besser entspricht und in welcher Gesellschaft er sich wohler fühle. Ich bin mir ziemlich sicher, er würde lieber in der provokativen Mahlrunde als in der frommen Gesellschaft sitzen.

Ich bin mir deswegen so sicher, weil es das charakteristische Markenzeichen Jesu war, andauernd Grenzen zu überschreiten. Er lässt sich mit öffentliche Sündern ein, wie auf die Frau des heutigen Evangeliums. Oder lässt sich vom halsabschneiderischen Levi verwöhnen und feiert mit ihm ausgelassen, was ihm den Ruf einbringt: Dieser Fresser und Säufer, dieser Freund der Zöllner und Dirnen.
Die unbescholtenen Bürger, die Frommen und Schriftgelehrten haben es bei Jesus nicht leicht. Was sie auch tun, es hat den Anschein: Jesus können sie es nie recht machen. Bemühen sie sich, die religiösen Vorschriften einzuhalten, so legt Jesus dies schnell als Engstirnigkeit oder gar Hartherzigkeit aus. Nehmen sie das Gebet ernst, so hat er schnell den Vorwurf der Scheinheiligkeit bei der Hand. Und selbst, wenn er wie heute vom frommen Simon die Einladung zu einem Gastmahl annimmt, bleibt er unberechenbar. Er führt sich ganz schön auf und stellt den Gastgeber bloß.

Wie schnell werden da die Grenzen zwischen anständig und unanständig, zwischen Frommen und Sündern verwischt. Das sind für Jesus nicht die entscheidenden Kategorien. Das Kriterium für seine Sympathie für Menschen haben wir gehört: „Sie hat mir viel Liebe gezeigt!“


Pfarrer Stefan Mai

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