Beziehung geht vor Inhalt

Predigt zum 6. Sonntag in der Osterzeit

Beziehung geht vor Inhalt! Das ist eine alte Weisheit, die heute überall wieder neu entdeckt wird.
Beziehung geht vor Inhalt! Das merkt heute jeder Lehrer. Er kann ein noch so großes Sachwissen haben, er kann noch so fit sein in methodischen Raffinessen. Das ist noch lange keine Garantie dafür, dass der Inhalt, den er vermitteln möchte, bei seinen Schülern auch ankommt. Die Beziehung, das Lehrer-Schüler Verhältnis muss stimmen, sonst gibt es große Verluste beim Vermittlungsprozess.

Beziehung geht vor Inhalt! Das spüren auch alle Eltern in der Erziehung. Wenn Kinder sich vom Vertrauen zu ihren Eltern absolut getragen fühlen, dann nehmen sie auch viel leichter an, was ihre Eltern ihnen raten oder als Wert ins Leben mitgeben wollen. Dann lehnen sie in Meinungsverschiedenheiten die Einstellung ihrer Eltern nicht einfach als böswillig ab, wenn sie ihnen nicht einleuchtet.

Beziehung geht vor Inhalt! Das spüren wir doch alle. Menschen, die ich nicht mag, haben es viel schwerer, bei mir mit ihren Gedanken und Ideen anzukommen als andere, zu denen ich eine gute Beziehung habe. Da wird doch viel eher ein Kritikfilter oder Ablehnungsmuster eingebaut und nicht unvoreingenommen hingehört. Da wird viel eher in Frage gestellt oder in Zweifel gezogen als bei Menschen, mit denen ich gut kann.

Beziehung geht vor Inhalt! Das spüre ich auch immer in der Begegnung mit Menschen in schweren Lebenssituationen. Wenn sie Vertrauen zu Menschen, ein großes Urvertrauen ins Leben und ein Grundvertrauen zu Gott haben, dann werden sie auch leichter mit einem schweren Lebensinhalt fertig. Wer ein Warum zum Leben hat, der erträgt fast jedes Wie, so ähnlich hat es einmal Dostojewski formuliert.

Beziehung geht vor Inhalt! Diese Weisheit hat inzwischen auch das Management in Industrie, Dienstleistung und Wirtschaft entdeckt. Kundennähe, freundlicher Service, sich einfühlen können, Interesse am Kunden, das baut Beziehung auf und hilft über die Beziehungsschiene das eigene Produkt vertrauenswürdig zu machen und auch zu verkaufen. Jedes Autohaus, jede Bank, jede Verkaufskette bildet seine Mitarbeiter nach diesem Prinzip aus.

Beziehung geht vor Inhalt! Dieses Prinzip prägt auch die Abschiedsreden Jesu, aus denen wir heute ein Stück im Evangelium gehört haben. Da hieß es: „Wenn jemand mich liebt, wird er an meinem Wort festhalten, mein Vater wird ihn lieben und wir werden zu ihm kommen und bei ihm wohnen. Wer mich nicht liebt, hält an meinen Worten nicht fest.“ Jesus ist überzeugt: Wenn ein Mensch mit ihm in guter Beziehung steht, ihm vertraut, dann wird er auch auf seine Worte hören und sich von seiner Lebensauffassung beeindrucken lassen. Wenn ein Mensch seine Person schätzt und ihn mag, dann hört er seine Worte viel vorurteilsfreier, dann begegnet er ihnen mit einem Vorschuss an Vertrauen und bezieht die Worte Jesu in seinen Denk und Lebenshorizont mit ein. Er wird auch sich nicht total gegenüber Worten versperren, die er nicht sofort akzeptieren kann. Und Jesus ist überzeugt: Wenn ein Mensch zu ihm eine tragfähige Beziehung hat, dann wird er sich seine Worte nicht nur zu Herzen nehmen, sondern sie auch ins eigene Leben umsetzen und sie an andere Menschen weitergeben.

Beziehung geht vor Inhalt! Diese Weisheit gilt im Leben. Diese Weisheit gilt auch für den Glauben.


Pfarrer Stefan Mai

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