Maria, die Tragende

Predigt zur Maiandacht am 1. Mai 2007

Da ist eine Frau von Jesus begeistert und fasziniert von seiner Ausstrahlung auf Menschen, und sie ruft ihm zu: „Selig die Frau, deren Leib dich getragen und deren Brust dich genährt hat!“ Diese Frau sagt nicht: „Jesus du bist ein Pfundskerl.“ Nein, sie drückt nach orientalischer Sitte ihre Bewunderung mit einem Lob an seine Mutter aus und macht diesem faszinierenden Jesus dadurch bewusst: „Was du bist, was du ausstrahlst, was du kannst, das hast du besonders der zu verdanken, die dich im Mutterleib und in der Kindheit getragen hat.“
Es gibt mir immer zu denken: Das menschliche Leben beginnt damit, dass ein werdendes Kind im Leib der Mutter über neun Monate hinweg getragen wird. Diese Zeit, an die sich kein Mensch erinnern kann, wird zum Urerlebnis für das Menschsein. Diese Sehnsucht bleibt ein Leben lang: getragen zu werden.
Wie oft werden kleine Kinder, wenn sie weinen und schreien, aus dem Bettchen gehoben und getragen, bis sie wieder still werden.
Wie oft geschieht es: Eine Familie geht spazieren. Den Kleinen werden die Beine müde, sie stellen sich vor dem Papa oder der Mama hin und betteln: „Trag mich!“
Ich weiß nicht, ob es auch heute noch den Wunsch gibt, am Hochzeitstag über die Türschwelle getragen zu werden. Aber die menschliche Sehnsucht ist unausrottbar, im Leben nicht fallen gelassen zu werden, in guten Tagen auf Händen getragen zu werden und in schweren Hände zu spüren, die einen stützen und tragen.



Sie haben heute eine besondere Mariendarstellung aus dem Senegal vor sich: Maria, die Tragende. Der afrikanische Künstler stellt Maria als junge afrikanische Frau dar, die ihr Kind im Tuch auf dem Rücken trägt, so wie es eine afrikanische Mutter immer tut. Mit der linken Hand hält sie das Kind am Popo und mit der rechten ganz zart an der Hand. Und das Kind fühlt die Nähe der Mutter, spürt Geborgenheit und schläft seelenruhig. Es legt sein Köpfchen an die Schultern der Mutter. Diese Schultern bieten dem Kind Halt und Schutz. Afrikanische Mütter tragen ihre Kinder lange so. Es scheint, sie haben ein Gespür: Für Kinder ist es zu wenig, 9 Monate im Mutterleib getragen zu werden. Sie müssen dieses Getragenwerden noch länger spüren, damit das Vertrauen ins Leben wächst.
Auch bei uns sieht man es wieder häufiger, wie Mütter oder Väter ihre Kinder mit einem Tuch tragen. Aber welcher Unterschied! Bei uns werden die Kinder meist am Bauch getragen. Wenn sie wach sind schauen sie dann aufs Gesicht der Mutter, aber nicht in Laufrichtung. Die afrikanische Art, Kinder zu tragen, ist meiner Meinung nach viel feinfühliger für das, was das Kind fürs Leben braucht. Es braucht Wärme und Geborgenheit, aber nicht dauernde Konzentration auf das Gesicht der Mutter. Die afrikanischen Kinder lernen auf dem Rücken der Mutter, dem alltäglichen Leben ins Gesicht zu schauen. Sie schauen auf dem Rücken der Mutter ihr bei allem, was sie tut, über die Schultern. Sie können beobachten, wie ihre Mütter das Leben anpacken und werden so Stück für Stück ins Leben eingeführt. Und wir wissen von Eingeborenenstämmen, dass sie ihre Kleinkinder schon ganz früh ganz bewusst über die schwankenden Hängebrücken, über Schwindel erregende tiefe Schluchten tragen und auf dem Rücken in die Tiefen schauen lassen, damit sie im späteren Leben davor keine Angst haben, Vertrauen ins Leben gewinnen und auch vor Schwerem nicht zurückschrecken. In Geborgenheit auf dem Rücken der Mutter ihr über die Schultern schauen, sie nicht dauernd anschauen, sondern mit ihr in die gleiche Richtung schauen und dadurch einen Lebensstil lernen, welch große Weisheit in der Erziehung.

Liebe Leser, dieses Madonnenbild aus dem Senegal vor Augen wird mir wieder einmal bewusst, welch großer Segen die Menschen für einen sind, die mich ins Leben getragen und an deren Hand ich das Leben gelernt haben. Und diese vergoldete, tragende Maria mit dem Kind auf dem Rücken sagt mir wieder einmal mehr: Der größte Schatz, der größte Reichtum im Leben ist, sich getragen wissen, von Menschen und von Gott.


Pfarrer Stefan Mai

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