Zwei Sichtweisen aufs Kreuz

Predigt zum Karfreitag

Für viele Menschen bis heute ein beeindruckender Ritus: die Kreuzverehrung am Karfreitag.
Wie viele unsichtbaren Kreuze wandern im Zug der Kreuzverehrung mit nach vorne.
Wie viele Kreuze drücken Menschen auf den Schultern, wenn sie ihre Kniebeuge vor dem Kreuz machen.
Wie viele schauen hoffnungsvoll dem Gekreuzigten in die Augen und bitten: Hilf mir, mein Kreuz tragen zu können – oder nimm es mir von den Schultern.
Wie viele sehnen sich danach, dass die offenen Arme des Gekreuzigten auch ihnen gelten. Dass da einer ist, der sagt: Ich halte dich. Ich lass dich nicht fallen.
Viele sehnen sich nach einem verständnisvollen Blick und lassen sich vom Gekreuzigten sagen: Ich weiß um alles, was dich bedrückt. Ich schau auf dich. Ich versteh’ dich. Ich weiß um deine Ohnmacht. Ich weiß um dein stilles Leiden.
Das ist der Trost des Gekreuzigten, der mich anschaut und seine Arme ausbreitet.

„Kreuzigung“ (1990) von Thomas Zacharias einblenden


Eine ganz andere Sichtweise aufs Kreuz zeigt Thomas Zacharias mit seiner Radierung von 1990. Da gehen Menschen nicht zum Kreuz, sondern wenden sich ab. Den Gekreuzigten sieht man nur von hinten. Fast verschluckt von der schwarzen Sonne und dem dunklen Himmel. Man erkennt nur schemenhaft ein ausgespreiztes Bein und die ausgestreckten Arme.
Da haben sich Leute das Spektakel angeschaut. Lassen den Gekreuzigten gekreuzigt sein und gehen weg.
Das Bild vom Gekreuzigten, den man nur von hinten sieht, erinnert mich an den Blick aufs Kreuz bei unseren Prozessionen. Ministranten fragen öfters: Sollen wir den Jesus auf uns schauen lassen – oder ihn nach vorne zeigen? Die Liturgie schreibt vor: Jesus wird vorangetragen, er schaut nach vorne, die Gläubigen gehen hinterher.
Das Bild von Zacharias wirft die Frage auf, ob wir das ernstnehmen. Der Gekreuzigte von hinten fragt:
Wollt ihr mich nur anschauen und hofft in eurem Leid auf Trost und Verständnis – oder seid ihr auch bereit, tatsächlich hinter mir herzugehen?
Wollt ihr euch nur Balsam für eure verwundeten Seelen holen – oder bleibt ihr auch noch in meinen Fußspuren, wenn es darum geht, Flagge für mich zu zeigen, für andere einzustehen?
Wollt ihr nur Worte von mir hören, die euch gut tun und euch beruhigen, oder lasst ihr euch auch Worte sagen, die euch zum Tun anstacheln?
Wollt ihr nur zu mir kommen, wenn’s euch dreckig geht, oder tragt ihr mich durch euren Lebensstil auch bewusst vor euch her – egal, was die anderen darüber denken, egal ob es ankommt oder nicht.
Ich bin nicht nur Seelentröster, ich fordere auch Konsequenzen. Am besten verehrt mich, wer versucht, Kreuze zu verhindern und niederzureißen, wer Leidenden unter die Arme greift, wer einen Blick hat für diejenigen, die untergebuttert werden, und wer sich traut, für sie das Wort zu ergreifen und Dinge zu sagen, auch wenn sie vielen nicht passen.
Liebe Leser, zwei Sichtweisen aufs Kreuz. Beide haben ihre Berechtigung. Die erste: sich anschauen lassen. Und die zweite: hinter ihm hergehen. Aber die erste ist ohne die zweite kraftlos. Das Kreuz anschauen bringt Trost im eigenen Leid. Aber einen Nachfolger Jesu kannst du dich erst nennen, wenn du in seinen Spuren hinter ihm hergehst und Kreuze von anderen mitzutragen oder niederzureißen bereit bist.
Um uns als Christen das bewusst zu machen, wollen wir heute am Ende der Karfreitagsliturgie das Kreuz umdrehen, das Kreuz von hinten anschauen und aus dem Lied „Mir nach, spricht Christus, unser Held“ miteinander singen:
Fällts euch zu schwer, ich geh’ voran, ich steh’ euch an der Seite.
Ich kämpfe selbst, ich brech’ die Bahn, bin alles in dem Streite.
Ein böser Knecht, der still kann stehn, sieht er voran den Feldherrn geh’n.


Pfarrer Stefan Mai

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