Jeder hat sein Getsemani

Predigt zum Gründonnerstag

Einleitung

Über dem Gründonnerstag Abend liegen immer zwei Themen: Das Geschehen im Abendmahlssaal und der Beginn des Leidens am Ölberg. Auf der einen Seite noch einmal ein großes Fest, auf der anderen Seite des Baches Kidron Zittern und Zagen.
Der Bach Kidron ein Symbol dafür, wie nah im Leben beides beieinander liegt: die Freundschaft – und wie schnell das Verlassensein. Die große Begeisterung – und dann nichts mehr davon wissen wollen. In einer Gesellschaft Feste feiern – und dann ganz alleine etwas durchstehen müssen.
Am heutigen Gründonnerstag Abend wollen wir in der Liturgie einmal auf die andere Seite des Kidrontals legen: auf das Geschehen im Ölberg. Und deshalb wird die Predigt erst am Ende des Gottesdienstes vor der Übertragung des Allerheiligsten sein.

Predigt

„Olivenhain“ von Vincent van Gogh einblenden


Ein Olivenhain, gemalt von Vinzent van Gogh im Jahr 1889. Idyllisch wirkt er nicht auf mich. Fast qualvoll winden sich die Bäume, vom Wind gepeitscht. Ihre Äste sind fast wie Fangarme, die nach mir greifen. Das Gras am Boden ist heimtückisch und unruhig, wie lebendige Fußfesseln, die mich festhalten und in die Tiefe zerren wollen. Gleich hinter den ersten beiden Ölbäumen geht es abschüssig hinunter. Die Aussicht nach vorn ist verstellt. Kein Weg zu erkennen. Wie ein Dickicht liegt der Hain vor mir. Und der Himmel: Genauso unruhig wie die Bäume. Er lastet schwer und gefährlich auf dem Hain. Keine Sonne zu sehen, aber sie sticht senkrecht von oben. Die Bäume werfen keinen Schatten. Ein Ölgarten, in den man nicht hineingehen möchte.

Vinzent van Gogh malt diesen „Ölgarten“ in der Irrenanstalt zu Saint-Remy. Dort hoffte er auf Heilung von seinem psychischen Leiden, muss aber durch viele Höllen gehen. Das einzige, was ihm bleibt, ist die Malerei und der Kontakt zu seinen beiden Malerfreunden Paul Gauguin und Emile Bernard. Eines Tages schicken sie ihm Skizzen von ihren neusten Bildern: von Christus im Ölgarten.
Daraufhin schreibt Vinzent van Gogh an seinen Bruder Theo:
Ich bewundere durchaus gar nicht den Christus im Olivengarten von Gauguin, von dem er mir eine Zeichnung schickte. Ebensowenig [den von] Bernard … Nein, in ihre biblischen Deutereien habe ich mich nie eingemischt … Ich will nicht noch einmal mit diesem Kapitel beginnen. Wenn ich hier bleibe, werde ich nicht versuchen, einen Christus im Olivengarten zu malen; vielmehr die Olivenernte, so wie man sie noch sieht, und wenn ich darin die wahren Verhältnisse der menschlichen Gestalt auffinde, so kann man dabei an jenes denken.

Im Olivengarten von Vinzent van Gogh ist kein Christus zu sehen. Van Gogh malt einfach den Olivengarten draußen vor dem Fenster der Irrenanstalt. Aber er malt in den Olivengarten hinein sein eigenes Inneres, seine eigenen Gefühle, wie es in ihm aussieht: Seine Pinselstriche verraten seine Unruhe, sein Aufgewühltsein, seine Angst, seine Aussichtslosigkeit, das Gefühl, von allen Seiten bedroht zu sein, verschlungen zu werden – oder abzukippen. Van Gogh malt sein eigenes Getsemani. Seine eigenen Ölbergstunden.

Liebe Leser, am Gründonnerstagabend versuchen viele, sich in das Leiden Jesu einzufühlen und stellen sich Jesus in seiner Verlassenheit am Ölberg vor. Van Gogh sagt mir: Du brauchst dich nicht in Christus einzufühlen. Denk an die ganz schlimmen Stunden deines eigenes Lebens, denk an deine eigenen Getsemanistunden, dann weißt du, was er durchgemacht hat und dann ist er bei dir.


Pfarrer Stefan Mai

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